nachher, ja erst nach ihrem Tode, erfuhr ich das geheime himmlische Lieben, auf eine Wei¬ se, die mich erschüttern mußte; aber ich war schuldlos und konnte ein schuldloses Wesen rein und redlich betrauren, und um so schö¬ ner, als die Entdeckung gerade in eine Epo¬ che fiel, wo ich, ganz ohne Leidenschaft, mir und meinen geistigen Neigungen zu leben das Glück hatte.
Aber zu der Zeit, als der Schmerz über Friedrikens Lage mich beängstigte, suchte ich, nach meiner alten Art, abermals Hülfe bey der Dichtkunst. Ich setzte die hergebrachte poetische Beichte wieder fort, um durch diese selbstquälerische Büßung einer innern Absolu¬ tion würdig zu werden. Die beyden Marieen in Goetz von Berlichingen und Clavigo, und die beyden schlechten Figuren, die ihre Liebha¬ ber spielen, möchten wohl Resultate solcher reuigen Betrachtungen gewesen seyn.
nachher, ja erſt nach ihrem Tode, erfuhr ich das geheime himmliſche Lieben, auf eine Wei¬ ſe, die mich erſchuͤttern mußte; aber ich war ſchuldlos und konnte ein ſchuldloſes Weſen rein und redlich betrauren, und um ſo ſchoͤ¬ ner, als die Entdeckung gerade in eine Epo¬ che fiel, wo ich, ganz ohne Leidenſchaft, mir und meinen geiſtigen Neigungen zu leben das Gluͤck hatte.
Aber zu der Zeit, als der Schmerz uͤber Friedrikens Lage mich beaͤngſtigte, ſuchte ich, nach meiner alten Art, abermals Huͤlfe bey der Dichtkunſt. Ich ſetzte die hergebrachte poetiſche Beichte wieder fort, um durch dieſe ſelbſtquaͤleriſche Buͤßung einer innern Abſolu¬ tion wuͤrdig zu werden. Die beyden Marieen in Goetz von Berlichingen und Clavigo, und die beyden ſchlechten Figuren, die ihre Liebha¬ ber ſpielen, moͤchten wohl Reſultate ſolcher reuigen Betrachtungen geweſen ſeyn.
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nachher, ja erſt nach ihrem Tode, erfuhr ich
das geheime himmliſche Lieben, auf eine Wei¬
ſe, die mich erſchuͤttern mußte; aber ich war
ſchuldlos und konnte ein ſchuldloſes Weſen
rein und redlich betrauren, und um ſo ſchoͤ¬
ner, als die Entdeckung gerade in eine Epo¬
che fiel, wo ich, ganz ohne Leidenſchaft, mir
und meinen geiſtigen Neigungen zu leben das
Gluͤck hatte.
Aber zu der Zeit, als der Schmerz uͤber
Friedrikens Lage mich beaͤngſtigte, ſuchte ich,
nach meiner alten Art, abermals Huͤlfe bey
der Dichtkunſt. Ich ſetzte die hergebrachte
poetiſche Beichte wieder fort, um durch dieſe
ſelbſtquaͤleriſche Buͤßung einer innern Abſolu¬
tion wuͤrdig zu werden. Die beyden Marieen
in Goetz von Berlichingen und Clavigo, und
die beyden ſchlechten Figuren, die ihre Liebha¬
ber ſpielen, moͤchten wohl Reſultate ſolcher
reuigen Betrachtungen geweſen ſeyn.
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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 182. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/190>, abgerufen am 27.11.2024.
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