wollte uns zu gleicher Zeit nicht völlig in den Sinn, wenn behauptet wurde, daß, um die Homerischen Naturen recht zu verstehn, man sich mit den wilden Völkern und ihren Sit¬ ten bekannt machen müsse, wie sie uns die Reisebeschreiber der neuen Welten schildern: denn es ließ sich doch nicht leugnen, daß so¬ wohl Europäer als Asiaten, in den Homeri¬ schen Gedichten schon auf einem hohen Grade der Cultur dargestellt worden, vielleicht auf einem höhern, als die Zeiten des Trojanischen Kriegs mochten genossen haben. Aber jene Maxime war doch mit dem herrschenden Na¬ turbekenntniß übereinstimmend, und in so fern mochten wir sie gelten lassen.
Bey allen diesen Beschäftigungen, die sich auf Menschenkunde im höheren Sinne, so wie auf Dichtkunst im nächsten und lieblichsten be¬ zogen, mußte ich doch jeden Tag erfahren, daß ich mich in Wetzlar aufhielt. Das Ge¬ spräch über den Zustand des Visitations-Ge¬
wollte uns zu gleicher Zeit nicht voͤllig in den Sinn, wenn behauptet wurde, daß, um die Homeriſchen Naturen recht zu verſtehn, man ſich mit den wilden Voͤlkern und ihren Sit¬ ten bekannt machen muͤſſe, wie ſie uns die Reiſebeſchreiber der neuen Welten ſchildern: denn es ließ ſich doch nicht leugnen, daß ſo¬ wohl Europaͤer als Aſiaten, in den Homeri¬ ſchen Gedichten ſchon auf einem hohen Grade der Cultur dargeſtellt worden, vielleicht auf einem hoͤhern, als die Zeiten des Trojaniſchen Kriegs mochten genoſſen haben. Aber jene Maxime war doch mit dem herrſchenden Na¬ turbekenntniß uͤbereinſtimmend, und in ſo fern mochten wir ſie gelten laſſen.
Bey allen dieſen Beſchaͤftigungen, die ſich auf Menſchenkunde im hoͤheren Sinne, ſo wie auf Dichtkunſt im naͤchſten und lieblichſten be¬ zogen, mußte ich doch jeden Tag erfahren, daß ich mich in Wetzlar aufhielt. Das Ge¬ ſpraͤch uͤber den Zuſtand des Viſitations-Ge¬
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wollte uns zu gleicher Zeit nicht voͤllig in den
Sinn, wenn behauptet wurde, daß, um die
Homeriſchen Naturen recht zu verſtehn, man
ſich mit den wilden Voͤlkern und ihren Sit¬
ten bekannt machen muͤſſe, wie ſie uns die
Reiſebeſchreiber der neuen Welten ſchildern:
denn es ließ ſich doch nicht leugnen, daß ſo¬
wohl Europaͤer als Aſiaten, in den Homeri¬
ſchen Gedichten ſchon auf einem hohen Grade
der Cultur dargeſtellt worden, vielleicht auf
einem hoͤhern, als die Zeiten des Trojaniſchen
Kriegs mochten genoſſen haben. Aber jene
Maxime war doch mit dem herrſchenden Na¬
turbekenntniß uͤbereinſtimmend, und in ſo fern
mochten wir ſie gelten laſſen.
Bey allen dieſen Beſchaͤftigungen, die ſich
auf Menſchenkunde im hoͤheren Sinne, ſo wie
auf Dichtkunſt im naͤchſten und lieblichſten be¬
zogen, mußte ich doch jeden Tag erfahren,
daß ich mich in Wetzlar aufhielt. Das Ge¬
ſpraͤch uͤber den Zuſtand des Viſitations-Ge¬
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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 222. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/230>, abgerufen am 23.11.2024.
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