Der neue Ankömmling, völlig frey von allen Banden, sorglos in der Gegenwart ei¬ nes Mädchens, das, schon versagt, den ge¬ fälligsten Dienst nicht als Bewerbung ausle¬ gen und sich desto eher daran erfreuen konnte, ließ sich ruhig gehen, war aber bald derge¬ stalt eingesponnen und gefesselt, und zugleich von dem jungen Paare so zutraulich und freundlich behandelt, daß er sich selbst nicht mehr kannte. Müssig und träumerisch, weil ihm keine Gegenwart genügte, fand er das was ihm abging in einer Freundinn, die, in¬ dem sie für's ganze Jahr lebte, nur für den Augenblick zu leben schien. Sie mochte ihn gern zu ihrem Begleiter; er konnte bald ihre Nähe nicht missen, denn sie vermittelte ihm die Alltagswelt, und so waren sie, bey einer ausgedehnten Wirthschaft, auf dem Acker und den Wiesen, auf dem Krautland wie im Gar¬ ten, bald unzertrennliche Gefährten. Erlaub¬ ten es dem Bräutigam seine Geschäfte, so war er an seinem Theil dabey; sie hatten sich
Der neue Ankoͤmmling, voͤllig frey von allen Banden, ſorglos in der Gegenwart ei¬ nes Maͤdchens, das, ſchon verſagt, den ge¬ faͤlligſten Dienſt nicht als Bewerbung ausle¬ gen und ſich deſto eher daran erfreuen konnte, ließ ſich ruhig gehen, war aber bald derge¬ ſtalt eingeſponnen und gefeſſelt, und zugleich von dem jungen Paare ſo zutraulich und freundlich behandelt, daß er ſich ſelbſt nicht mehr kannte. Muͤſſig und traͤumeriſch, weil ihm keine Gegenwart genuͤgte, fand er das was ihm abging in einer Freundinn, die, in¬ dem ſie fuͤr's ganze Jahr lebte, nur fuͤr den Augenblick zu leben ſchien. Sie mochte ihn gern zu ihrem Begleiter; er konnte bald ihre Naͤhe nicht miſſen, denn ſie vermittelte ihm die Alltagswelt, und ſo waren ſie, bey einer ausgedehnten Wirthſchaft, auf dem Acker und den Wieſen, auf dem Krautland wie im Gar¬ ten, bald unzertrennliche Gefaͤhrten. Erlaub¬ ten es dem Braͤutigam ſeine Geſchaͤfte, ſo war er an ſeinem Theil dabey; ſie hatten ſich
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Der neue Ankoͤmmling, voͤllig frey von
allen Banden, ſorglos in der Gegenwart ei¬
nes Maͤdchens, das, ſchon verſagt, den ge¬
faͤlligſten Dienſt nicht als Bewerbung ausle¬
gen und ſich deſto eher daran erfreuen konnte,
ließ ſich ruhig gehen, war aber bald derge¬
ſtalt eingeſponnen und gefeſſelt, und zugleich
von dem jungen Paare ſo zutraulich und
freundlich behandelt, daß er ſich ſelbſt nicht
mehr kannte. Muͤſſig und traͤumeriſch, weil
ihm keine Gegenwart genuͤgte, fand er das
was ihm abging in einer Freundinn, die, in¬
dem ſie fuͤr's ganze Jahr lebte, nur fuͤr den
Augenblick zu leben ſchien. Sie mochte ihn
gern zu ihrem Begleiter; er konnte bald ihre
Naͤhe nicht miſſen, denn ſie vermittelte ihm
die Alltagswelt, und ſo waren ſie, bey einer
ausgedehnten Wirthſchaft, auf dem Acker und
den Wieſen, auf dem Krautland wie im Gar¬
ten, bald unzertrennliche Gefaͤhrten. Erlaub¬
ten es dem Braͤutigam ſeine Geſchaͤfte, ſo
war er an ſeinem Theil dabey; ſie hatten ſich
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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 235. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/243>, abgerufen am 23.11.2024.
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