alle drey an einander gewöhnt ohne es zu wollen, und wußten nicht, wie sie dazu ka¬ men, sich nicht entbehren zu können. So lebten sie, den herrlichen Sommer hin, eine ächt deutsche Idylle, wozu das fruchtbare Land die Prosa, und eine reine Neigung die Poe¬ sie hergab. Durch reife Kornfelder wandernd erquickten sie sich am thaureichen Morgen; das Lied der Lerche, der Schlag der Wachtel waren ergetzliche Töne; heiße Stunden folg¬ ten, ungeheure Gewitter brachen herein, man schloß sich nur destomehr aneinander, und mancher kleine Familien-Verdruß war leicht ausgelöscht durch fortdauernde Liebe. Und so nahm ein gemeiner Tag den andern auf, und alle schienen Festtage zu seyn; der ganze Ca¬ lender hätte müssen roth gedruckt werden. Ver¬ stehen wird mich, wer sich erinnert, was von dem glücklich-unglücklichen Freunde der neuen Heloise geweissagt worden: "Und zu den Fü¬ ßen seiner Geliebten sitzend, wird er Hanf brechen, und er wird wünschen Hanf zu bre¬
alle drey an einander gewoͤhnt ohne es zu wollen, und wußten nicht, wie ſie dazu ka¬ men, ſich nicht entbehren zu koͤnnen. So lebten ſie, den herrlichen Sommer hin, eine aͤcht deutſche Idylle, wozu das fruchtbare Land die Proſa, und eine reine Neigung die Poe¬ ſie hergab. Durch reife Kornfelder wandernd erquickten ſie ſich am thaureichen Morgen; das Lied der Lerche, der Schlag der Wachtel waren ergetzliche Toͤne; heiße Stunden folg¬ ten, ungeheure Gewitter brachen herein, man ſchloß ſich nur deſtomehr aneinander, und mancher kleine Familien-Verdruß war leicht ausgeloͤſcht durch fortdauernde Liebe. Und ſo nahm ein gemeiner Tag den andern auf, und alle ſchienen Feſttage zu ſeyn; der ganze Ca¬ lender haͤtte muͤſſen roth gedruckt werden. Ver¬ ſtehen wird mich, wer ſich erinnert, was von dem gluͤcklich-ungluͤcklichen Freunde der neuen Heloiſe geweiſſagt worden: „Und zu den Fuͤ¬ ßen ſeiner Geliebten ſitzend, wird er Hanf brechen, und er wird wuͤnſchen Hanf zu bre¬
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alle drey an einander gewoͤhnt ohne es zu
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men, ſich nicht entbehren zu koͤnnen. So
lebten ſie, den herrlichen Sommer hin, eine
aͤcht deutſche Idylle, wozu das fruchtbare Land
die Proſa, und eine reine Neigung die Poe¬
ſie hergab. Durch reife Kornfelder wandernd
erquickten ſie ſich am thaureichen Morgen;
das Lied der Lerche, der Schlag der Wachtel
waren ergetzliche Toͤne; heiße Stunden folg¬
ten, ungeheure Gewitter brachen herein, man
ſchloß ſich nur deſtomehr aneinander, und
mancher kleine Familien-Verdruß war leicht
ausgeloͤſcht durch fortdauernde Liebe. Und ſo
nahm ein gemeiner Tag den andern auf, und
alle ſchienen Feſttage zu ſeyn; der ganze Ca¬
lender haͤtte muͤſſen roth gedruckt werden. Ver¬
ſtehen wird mich, wer ſich erinnert, was von
dem gluͤcklich-ungluͤcklichen Freunde der neuen
Heloiſe geweiſſagt worden: „Und zu den Fuͤ¬
ßen ſeiner Geliebten ſitzend, wird er Hanf
brechen, und er wird wuͤnſchen Hanf zu bre¬
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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 236. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/244>, abgerufen am 23.11.2024.
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