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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814.

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Ich hatte mich bey meinem Rößel Tisch¬
wein mäßig verhalten; die Herren aber ließen
sich besseren reichen, und ermangelten nicht,
auch mir davon mitzutheilen. Nachdem viele
Angelegenheiten des Tags durchgesprochen wa¬
ren, zog sich die Unterhaltung in's Allgemei¬
ne, und man behandelte die Frage, die, so
lange es Schriftsteller giebt, sich immer wie¬
derholen wird, ob nämlich die Literatur im
Auf- oder Absteigen, Vor- oder Rück¬
schritt begriffen sey? Diese Frage, worüber
sich besonders Alte und Junge, Angehende
und Abtretende selten vergleichen, sprach man
mit Heiterkeit durch, ohne daß man gerade
die Absicht gehabt hätte, sich darüber entschie¬
den zu verständigen. Zuletzt nahm ich das
Wort und sagte: "die Literaturen, scheint es
mir, haben Jahrszeiten, die mit einander
abwechselnd, wie in der Natur, gewisse Phä¬
nomene hervorbringen, und sich der Reihe
nach wiederholen. Ich glaube daher nicht,
daß man irgend eine Epoche einer Literatur

Ich hatte mich bey meinem Roͤßel Tiſch¬
wein maͤßig verhalten; die Herren aber ließen
ſich beſſeren reichen, und ermangelten nicht,
auch mir davon mitzutheilen. Nachdem viele
Angelegenheiten des Tags durchgeſprochen wa¬
ren, zog ſich die Unterhaltung in's Allgemei¬
ne, und man behandelte die Frage, die, ſo
lange es Schriftſteller giebt, ſich immer wie¬
derholen wird, ob naͤmlich die Literatur im
Auf- oder Abſteigen, Vor- oder Ruͤck¬
ſchritt begriffen ſey? Dieſe Frage, woruͤber
ſich beſonders Alte und Junge, Angehende
und Abtretende ſelten vergleichen, ſprach man
mit Heiterkeit durch, ohne daß man gerade
die Abſicht gehabt haͤtte, ſich daruͤber entſchie¬
den zu verſtaͤndigen. Zuletzt nahm ich das
Wort und ſagte: „die Literaturen, ſcheint es
mir, haben Jahrszeiten, die mit einander
abwechſelnd, wie in der Natur, gewiſſe Phaͤ¬
nomene hervorbringen, und ſich der Reihe
nach wiederholen. Ich glaube daher nicht,
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[246/0254] Ich hatte mich bey meinem Roͤßel Tiſch¬ wein maͤßig verhalten; die Herren aber ließen ſich beſſeren reichen, und ermangelten nicht, auch mir davon mitzutheilen. Nachdem viele Angelegenheiten des Tags durchgeſprochen wa¬ ren, zog ſich die Unterhaltung in's Allgemei¬ ne, und man behandelte die Frage, die, ſo lange es Schriftſteller giebt, ſich immer wie¬ derholen wird, ob naͤmlich die Literatur im Auf- oder Abſteigen, Vor- oder Ruͤck¬ ſchritt begriffen ſey? Dieſe Frage, woruͤber ſich beſonders Alte und Junge, Angehende und Abtretende ſelten vergleichen, ſprach man mit Heiterkeit durch, ohne daß man gerade die Abſicht gehabt haͤtte, ſich daruͤber entſchie¬ den zu verſtaͤndigen. Zuletzt nahm ich das Wort und ſagte: „die Literaturen, ſcheint es mir, haben Jahrszeiten, die mit einander abwechſelnd, wie in der Natur, gewiſſe Phaͤ¬ nomene hervorbringen, und ſich der Reihe nach wiederholen. Ich glaube daher nicht, daß man irgend eine Epoche einer Literatur

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 246. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/254>, abgerufen am 17.06.2024.