nichts au sie. Sie war mild gegen alles und konnte alles dulden ohne zu leiden; den Scherz ihres Mannes, die Zärtlichkeit ihrer Freunde, die Anmuth ihrer Kinder, alles erwiderte sie auf gleiche Weise, und so blieb sie immer sie selbst, ohne daß ihr in der Welt durch Gu¬ tes und Böses, oder in der Literatur durch Vortreffliches und Schwaches wäre, beyzukom¬ men gewesen. Dieser Sinnesart verdankt sie ihre Selbständigkeit bis in ein hohes Alter, bey manchen traurigen, ja kümmerlichen Schick¬ salen. Doch um nicht ungerecht zu seyn, muß ich erwähnen, daß ihre beyden Söhne, da¬ mals Kinder von blendender Schönheit, ihr manchmal einen Ausdruck ablockten, der sich von demjenigen unterschied, dessen sie sich zum täglichen Gebrauch bediente.
So lebte ich in einer neuen wundersam angenehmen Umgebung eine Zeitlang fort, bis Merk mit seiner Familie herankam. Hier entstanden sogleich neue Wahlverwandtschaften:
nichts au ſie. Sie war mild gegen alles und konnte alles dulden ohne zu leiden; den Scherz ihres Mannes, die Zaͤrtlichkeit ihrer Freunde, die Anmuth ihrer Kinder, alles erwiderte ſie auf gleiche Weiſe, und ſo blieb ſie immer ſie ſelbſt, ohne daß ihr in der Welt durch Gu¬ tes und Boͤſes, oder in der Literatur durch Vortreffliches und Schwaches waͤre, beyzukom¬ men geweſen. Dieſer Sinnesart verdankt ſie ihre Selbſtaͤndigkeit bis in ein hohes Alter, bey manchen traurigen, ja kuͤmmerlichen Schick¬ ſalen. Doch um nicht ungerecht zu ſeyn, muß ich erwaͤhnen, daß ihre beyden Soͤhne, da¬ mals Kinder von blendender Schoͤnheit, ihr manchmal einen Ausdruck ablockten, der ſich von demjenigen unterſchied, deſſen ſie ſich zum taͤglichen Gebrauch bediente.
So lebte ich in einer neuen wunderſam angenehmen Umgebung eine Zeitlang fort, bis Merk mit ſeiner Familie herankam. Hier entſtanden ſogleich neue Wahlverwandtſchaften:
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nichts au ſie. Sie war mild gegen alles und
konnte alles dulden ohne zu leiden; den Scherz
ihres Mannes, die Zaͤrtlichkeit ihrer Freunde,
die Anmuth ihrer Kinder, alles erwiderte ſie
auf gleiche Weiſe, und ſo blieb ſie immer ſie
ſelbſt, ohne daß ihr in der Welt durch Gu¬
tes und Boͤſes, oder in der Literatur durch
Vortreffliches und Schwaches waͤre, beyzukom¬
men geweſen. Dieſer Sinnesart verdankt ſie
ihre Selbſtaͤndigkeit bis in ein hohes Alter,
bey manchen traurigen, ja kuͤmmerlichen Schick¬
ſalen. Doch um nicht ungerecht zu ſeyn, muß
ich erwaͤhnen, daß ihre beyden Soͤhne, da¬
mals Kinder von blendender Schoͤnheit, ihr
manchmal einen Ausdruck ablockten, der ſich
von demjenigen unterſchied, deſſen ſie ſich zum
taͤglichen Gebrauch bediente.
So lebte ich in einer neuen wunderſam
angenehmen Umgebung eine Zeitlang fort, bis
Merk mit ſeiner Familie herankam. Hier
entſtanden ſogleich neue Wahlverwandtſchaften:
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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 280. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/288>, abgerufen am 25.11.2024.
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