Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814.

Bild:
<< vorherige Seite

daß hieraus ein häusliches Misverhältniß hät¬
te entstehn müssen. Aber keineswegs! Sie
war die wunderbarste Frau, und ich wüßte
ihr keine andre zu vergleichen. Schlank und
zart gebaut, eher groß als klein, hatte sie bis
in ihre höheren Jahre eine gewisse Eleganz
der Gestalt sowohl als des Betragens zu er¬
halten gewußt, die zwischen dem Benehmen
einer Edeldame und einer würdigen bürger¬
lichen Frau gar anmuthig schwebte. Im An¬
zuge war sie sich mehrere Jahre gleich geblie¬
ben. Ein nettes Flügelhäubchen stand dem
kleinen Kopfe und dem feinen Gesichte gar
wohl, und die braune oder graue Kleidung
gab ihrer Gegenwart Ruhe und Würde. Sie
sprach gut, und wußte dem was sie sagte durch
Empfindung immer Bedeutung zu geben. Ihr
Betragen war gegen Jederman vollkommen
gleich. Allein durch dieses alles ist noch nicht
das Eigenste ihres Wesens ausgesprochen; es
zu bezeichnen ist schwer. Sie schien an allem
Theil zu nehmen, aber im Grunde wirkte

daß hieraus ein haͤusliches Misverhaͤltniß haͤt¬
te entſtehn muͤſſen. Aber keineswegs! Sie
war die wunderbarſte Frau, und ich wuͤßte
ihr keine andre zu vergleichen. Schlank und
zart gebaut, eher groß als klein, hatte ſie bis
in ihre hoͤheren Jahre eine gewiſſe Eleganz
der Geſtalt ſowohl als des Betragens zu er¬
halten gewußt, die zwiſchen dem Benehmen
einer Edeldame und einer wuͤrdigen buͤrger¬
lichen Frau gar anmuthig ſchwebte. Im An¬
zuge war ſie ſich mehrere Jahre gleich geblie¬
ben. Ein nettes Fluͤgelhaͤubchen ſtand dem
kleinen Kopfe und dem feinen Geſichte gar
wohl, und die braune oder graue Kleidung
gab ihrer Gegenwart Ruhe und Wuͤrde. Sie
ſprach gut, und wußte dem was ſie ſagte durch
Empfindung immer Bedeutung zu geben. Ihr
Betragen war gegen Jederman vollkommen
gleich. Allein durch dieſes alles iſt noch nicht
das Eigenſte ihres Weſens ausgeſprochen; es
zu bezeichnen iſt ſchwer. Sie ſchien an allem
Theil zu nehmen, aber im Grunde wirkte

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0287" n="279"/>
daß hieraus ein ha&#x0364;usliches Misverha&#x0364;ltniß ha&#x0364;<lb/>
te ent&#x017F;tehn mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en. Aber keineswegs! Sie<lb/>
war die wunderbar&#x017F;te Frau, und ich wu&#x0364;ßte<lb/>
ihr keine andre zu vergleichen. Schlank und<lb/>
zart gebaut, eher groß als klein, hatte &#x017F;ie bis<lb/>
in ihre ho&#x0364;heren Jahre eine gewi&#x017F;&#x017F;e Eleganz<lb/>
der Ge&#x017F;talt &#x017F;owohl als des Betragens zu er¬<lb/>
halten gewußt, die zwi&#x017F;chen dem Benehmen<lb/>
einer Edeldame und einer wu&#x0364;rdigen bu&#x0364;rger¬<lb/>
lichen Frau gar anmuthig &#x017F;chwebte. Im An¬<lb/>
zuge war &#x017F;ie &#x017F;ich mehrere Jahre gleich geblie¬<lb/>
ben. Ein nettes Flu&#x0364;gelha&#x0364;ubchen &#x017F;tand dem<lb/>
kleinen Kopfe und dem feinen Ge&#x017F;ichte gar<lb/>
wohl, und die braune oder graue Kleidung<lb/>
gab ihrer Gegenwart Ruhe und Wu&#x0364;rde. Sie<lb/>
&#x017F;prach gut, und wußte dem was &#x017F;ie &#x017F;agte durch<lb/>
Empfindung immer Bedeutung zu geben. Ihr<lb/>
Betragen war gegen Jederman vollkommen<lb/>
gleich. Allein durch die&#x017F;es alles i&#x017F;t noch nicht<lb/>
das Eigen&#x017F;te ihres We&#x017F;ens ausge&#x017F;prochen; es<lb/>
zu bezeichnen i&#x017F;t &#x017F;chwer. Sie &#x017F;chien an allem<lb/>
Theil zu nehmen, aber im Grunde wirkte<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[279/0287] daß hieraus ein haͤusliches Misverhaͤltniß haͤt¬ te entſtehn muͤſſen. Aber keineswegs! Sie war die wunderbarſte Frau, und ich wuͤßte ihr keine andre zu vergleichen. Schlank und zart gebaut, eher groß als klein, hatte ſie bis in ihre hoͤheren Jahre eine gewiſſe Eleganz der Geſtalt ſowohl als des Betragens zu er¬ halten gewußt, die zwiſchen dem Benehmen einer Edeldame und einer wuͤrdigen buͤrger¬ lichen Frau gar anmuthig ſchwebte. Im An¬ zuge war ſie ſich mehrere Jahre gleich geblie¬ ben. Ein nettes Fluͤgelhaͤubchen ſtand dem kleinen Kopfe und dem feinen Geſichte gar wohl, und die braune oder graue Kleidung gab ihrer Gegenwart Ruhe und Wuͤrde. Sie ſprach gut, und wußte dem was ſie ſagte durch Empfindung immer Bedeutung zu geben. Ihr Betragen war gegen Jederman vollkommen gleich. Allein durch dieſes alles iſt noch nicht das Eigenſte ihres Weſens ausgeſprochen; es zu bezeichnen iſt ſchwer. Sie ſchien an allem Theil zu nehmen, aber im Grunde wirkte

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/287
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 279. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/287>, abgerufen am 25.11.2024.