leidenschaftliches Wirken: die herrlichsten Ei¬ genschaften, die man von geistreichen gebil¬ deten Menschen rühmen kann; aber das alles zusammengenommen macht noch keinen Poe¬ ten. Die wahre Poesie kündet sich dadurch an, daß sie, als ein weltliches Evangelium, durch innere Heiterkeit, durch äußeres Beha¬ gen, uns von den irdischen Lasten zu befreyen weiß, die auf uns drücken. Wie ein Luft¬ ballon hebt sie uns mit dem Ballast der uns anhängt, in höhere Regionen, und läßt die verwirrten Irrgänge der Erde in Vogelper¬ spective vor uns entwickelt daliegen. Die mun¬ tersten wie die ernstesten Werke haben den gleichen Zweck, durch eine glückliche geistreiche Darstellung so Lust als Schmerz zu mäßigen. Man betrachte nun in diesem Sinne die Mehrzahl der englischen meist moralisch-di¬ dactischen Gedichte, und sie werden im Durch¬ schnitt nur einen düstern Ueberdruß des Le¬ bens zeigen. Nicht Youngs Nachtgedan¬ ken allein, wo dieses Thema vorzüglich durch¬
leidenſchaftliches Wirken: die herrlichſten Ei¬ genſchaften, die man von geiſtreichen gebil¬ deten Menſchen ruͤhmen kann; aber das alles zuſammengenommen macht noch keinen Poe¬ ten. Die wahre Poeſie kuͤndet ſich dadurch an, daß ſie, als ein weltliches Evangelium, durch innere Heiterkeit, durch aͤußeres Beha¬ gen, uns von den irdiſchen Laſten zu befreyen weiß, die auf uns druͤcken. Wie ein Luft¬ ballon hebt ſie uns mit dem Ballaſt der uns anhaͤngt, in hoͤhere Regionen, und laͤßt die verwirrten Irrgaͤnge der Erde in Vogelper¬ ſpective vor uns entwickelt daliegen. Die mun¬ terſten wie die ernſteſten Werke haben den gleichen Zweck, durch eine gluͤckliche geiſtreiche Darſtellung ſo Luſt als Schmerz zu maͤßigen. Man betrachte nun in dieſem Sinne die Mehrzahl der engliſchen meiſt moraliſch-di¬ dactiſchen Gedichte, und ſie werden im Durch¬ ſchnitt nur einen duͤſtern Ueberdruß des Le¬ bens zeigen. Nicht Youngs Nachtgedan¬ ken allein, wo dieſes Thema vorzuͤglich durch¬
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0335"n="327"/>
leidenſchaftliches Wirken: die herrlichſten Ei¬<lb/>
genſchaften, die man von geiſtreichen gebil¬<lb/>
deten Menſchen ruͤhmen kann; aber das alles<lb/>
zuſammengenommen macht noch keinen Poe¬<lb/>
ten. Die wahre Poeſie kuͤndet ſich dadurch<lb/>
an, daß ſie, als ein weltliches Evangelium,<lb/>
durch innere Heiterkeit, durch aͤußeres Beha¬<lb/>
gen, uns von den irdiſchen Laſten zu befreyen<lb/>
weiß, die auf uns druͤcken. Wie ein Luft¬<lb/>
ballon hebt ſie uns mit dem Ballaſt der uns<lb/>
anhaͤngt, in hoͤhere Regionen, und laͤßt die<lb/>
verwirrten Irrgaͤnge der Erde in Vogelper¬<lb/>ſpective vor uns entwickelt daliegen. Die mun¬<lb/>
terſten wie die ernſteſten Werke haben den<lb/>
gleichen Zweck, durch eine gluͤckliche geiſtreiche<lb/>
Darſtellung ſo Luſt als Schmerz zu maͤßigen.<lb/>
Man betrachte nun in dieſem Sinne die<lb/>
Mehrzahl der engliſchen meiſt moraliſch-di¬<lb/>
dactiſchen Gedichte, und ſie werden im Durch¬<lb/>ſchnitt nur einen duͤſtern Ueberdruß des Le¬<lb/>
bens zeigen. Nicht <hirendition="#g">Youngs</hi> Nachtgedan¬<lb/>
ken allein, wo dieſes Thema vorzuͤglich durch¬<lb/></p></div></body></text></TEI>
[327/0335]
leidenſchaftliches Wirken: die herrlichſten Ei¬
genſchaften, die man von geiſtreichen gebil¬
deten Menſchen ruͤhmen kann; aber das alles
zuſammengenommen macht noch keinen Poe¬
ten. Die wahre Poeſie kuͤndet ſich dadurch
an, daß ſie, als ein weltliches Evangelium,
durch innere Heiterkeit, durch aͤußeres Beha¬
gen, uns von den irdiſchen Laſten zu befreyen
weiß, die auf uns druͤcken. Wie ein Luft¬
ballon hebt ſie uns mit dem Ballaſt der uns
anhaͤngt, in hoͤhere Regionen, und laͤßt die
verwirrten Irrgaͤnge der Erde in Vogelper¬
ſpective vor uns entwickelt daliegen. Die mun¬
terſten wie die ernſteſten Werke haben den
gleichen Zweck, durch eine gluͤckliche geiſtreiche
Darſtellung ſo Luſt als Schmerz zu maͤßigen.
Man betrachte nun in dieſem Sinne die
Mehrzahl der engliſchen meiſt moraliſch-di¬
dactiſchen Gedichte, und ſie werden im Durch¬
ſchnitt nur einen duͤſtern Ueberdruß des Le¬
bens zeigen. Nicht Youngs Nachtgedan¬
ken allein, wo dieſes Thema vorzuͤglich durch¬
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 327. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/335>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.