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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814.

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Bey meiner Arbeit war mir nicht unbe¬
kannt, wie sehr begünstigt jener Künstler ge¬
wesen, dem man Gelegenheit gab, eine Ve¬
nus aus mehreren Schönheiten herauszustudi¬
ren, und so nahm ich mir auch die Erlaub¬
niß, an der Gestalt und den Eigenschaften
mehrerer hübschen Kinder meine Lotte zu bil¬
den, obgleich die Hauptzüge von der geliebte¬
sten genommen waren. Das forschende Pu¬
blicum konnte daher Aehnlichkeiten von ver¬
schiedenen Frauenzimmern entdecken, und den
Damen war es auch nicht ganz gleichgültig,
für die rechte zu gelten. Diese mehreren Lot¬
ten aber brachten mir unendliche Qual, weil
Jederman der mich nur ansah, entschieden zu
wissen verlangte, wo denn die eigentliche
wohnhaft sey? Ich suchte mir wie Nathan
mit den drey Ringen durchzuhelfen, auf ei¬
nem Auswege, der freylich höheren Wesen
zukommen mag, wodurch sich aber weder das
gläubige, noch das lesende Publicum will be¬
friedigen lassen. Dergleichen peinliche For¬

Bey meiner Arbeit war mir nicht unbe¬
kannt, wie ſehr beguͤnſtigt jener Kuͤnſtler ge¬
weſen, dem man Gelegenheit gab, eine Ve¬
nus aus mehreren Schoͤnheiten herauszuſtudi¬
ren, und ſo nahm ich mir auch die Erlaub¬
niß, an der Geſtalt und den Eigenſchaften
mehrerer huͤbſchen Kinder meine Lotte zu bil¬
den, obgleich die Hauptzuͤge von der geliebte¬
ſten genommen waren. Das forſchende Pu¬
blicum konnte daher Aehnlichkeiten von ver¬
ſchiedenen Frauenzimmern entdecken, und den
Damen war es auch nicht ganz gleichguͤltig,
fuͤr die rechte zu gelten. Dieſe mehreren Lot¬
ten aber brachten mir unendliche Qual, weil
Jederman der mich nur anſah, entſchieden zu
wiſſen verlangte, wo denn die eigentliche
wohnhaft ſey? Ich ſuchte mir wie Nathan
mit den drey Ringen durchzuhelfen, auf ei¬
nem Auswege, der freylich hoͤheren Weſen
zukommen mag, wodurch ſich aber weder das
glaͤubige, noch das leſende Publicum will be¬
friedigen laſſen. Dergleichen peinliche For¬

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[357/0365] Bey meiner Arbeit war mir nicht unbe¬ kannt, wie ſehr beguͤnſtigt jener Kuͤnſtler ge¬ weſen, dem man Gelegenheit gab, eine Ve¬ nus aus mehreren Schoͤnheiten herauszuſtudi¬ ren, und ſo nahm ich mir auch die Erlaub¬ niß, an der Geſtalt und den Eigenſchaften mehrerer huͤbſchen Kinder meine Lotte zu bil¬ den, obgleich die Hauptzuͤge von der geliebte¬ ſten genommen waren. Das forſchende Pu¬ blicum konnte daher Aehnlichkeiten von ver¬ ſchiedenen Frauenzimmern entdecken, und den Damen war es auch nicht ganz gleichguͤltig, fuͤr die rechte zu gelten. Dieſe mehreren Lot¬ ten aber brachten mir unendliche Qual, weil Jederman der mich nur anſah, entſchieden zu wiſſen verlangte, wo denn die eigentliche wohnhaft ſey? Ich ſuchte mir wie Nathan mit den drey Ringen durchzuhelfen, auf ei¬ nem Auswege, der freylich hoͤheren Weſen zukommen mag, wodurch ſich aber weder das glaͤubige, noch das leſende Publicum will be¬ friedigen laſſen. Dergleichen peinliche For¬

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 357. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/365>, abgerufen am 25.11.2024.