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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814.

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ganze Mittelstand aufgeregt, und Jederman
wünschte das Genauere zu erfahren. Nun
erschien im Werther eine ausführliche Schil¬
derung, in der man das Leben und die Sin¬
nesart des genannten Jünglings wieder zu
finden meynte. Localität und Persönlichkeit
trafen zu, und bey der großen Natürlichkeit
der Darstellung glaubte man sich nun voll¬
kommen unterrichtet und befriedigt. Dage¬
gen aber, bey näherer Betrachtung, paßte
wieder so vieles nicht, und es entstand für
die welche das Wahre suchten, ein unerträg¬
liches Geschäft, indem eine sondernde Critik
hundert Zweifel erregen muß. Auf den Grund
der Sache war aber gar nicht zu kommen:
denn was ich von meinem Leben und Leiden
der Composition zugewendet hatte, ließ sich
nicht entziffern, indem ich, als ein unbemerk¬
ter junger Mensch, mein Wesen zwar nicht
heimlich, aber doch im Stillen getrieben hatte.

ganze Mittelſtand aufgeregt, und Jederman
wuͤnſchte das Genauere zu erfahren. Nun
erſchien im Werther eine ausfuͤhrliche Schil¬
derung, in der man das Leben und die Sin¬
nesart des genannten Juͤnglings wieder zu
finden meynte. Localitaͤt und Perſoͤnlichkeit
trafen zu, und bey der großen Natuͤrlichkeit
der Darſtellung glaubte man ſich nun voll¬
kommen unterrichtet und befriedigt. Dage¬
gen aber, bey naͤherer Betrachtung, paßte
wieder ſo vieles nicht, und es entſtand fuͤr
die welche das Wahre ſuchten, ein unertraͤg¬
liches Geſchaͤft, indem eine ſondernde Critik
hundert Zweifel erregen muß. Auf den Grund
der Sache war aber gar nicht zu kommen:
denn was ich von meinem Leben und Leiden
der Compoſition zugewendet hatte, ließ ſich
nicht entziffern, indem ich, als ein unbemerk¬
ter junger Menſch, mein Weſen zwar nicht
heimlich, aber doch im Stillen getrieben hatte.

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[356/0364] ganze Mittelſtand aufgeregt, und Jederman wuͤnſchte das Genauere zu erfahren. Nun erſchien im Werther eine ausfuͤhrliche Schil¬ derung, in der man das Leben und die Sin¬ nesart des genannten Juͤnglings wieder zu finden meynte. Localitaͤt und Perſoͤnlichkeit trafen zu, und bey der großen Natuͤrlichkeit der Darſtellung glaubte man ſich nun voll¬ kommen unterrichtet und befriedigt. Dage¬ gen aber, bey naͤherer Betrachtung, paßte wieder ſo vieles nicht, und es entſtand fuͤr die welche das Wahre ſuchten, ein unertraͤg¬ liches Geſchaͤft, indem eine ſondernde Critik hundert Zweifel erregen muß. Auf den Grund der Sache war aber gar nicht zu kommen: denn was ich von meinem Leben und Leiden der Compoſition zugewendet hatte, ließ ſich nicht entziffern, indem ich, als ein unbemerk¬ ter junger Menſch, mein Weſen zwar nicht heimlich, aber doch im Stillen getrieben hatte.

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 356. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/364>, abgerufen am 25.11.2024.