Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814.

Bild:
<< vorherige Seite

rüber ich denn sehr ärgerlich wurde, und mich
meistens höchst unartig dagegen äußerte. Denn
diese Frage zu beantworten, hätte ich mein
Werkchen, an dem ich so lange gesonnen, um
so manchen Elementen eine poetische Einheit
zu geben, wieder zerrupfen und die Form zer¬
stören müssen, wodurch ja die wahrhaften Be¬
standtheile selbst wo nicht vernichtet, wenig¬
stens zerstreut und verzettelt worden wären.
Näher betrachtet konnte ich jedoch dem Pu¬
blicum die Forderung nicht verüblen. Jeru¬
salems Schicksal hatte großes Aufsehen ge¬
macht. Ein gebildeter, liebenswerther, unbe¬
scholtener junger Mann, der Sohn eines der
ersten Gottesgelahrten und Schriftstellers, ge¬
sund und wohlhabend, ging auf einmal, ohne
bekannte Veranlassung, aus der Welt. Jeder¬
man fragte nun, wie das möglich gewesen?
und als man von einer unglücklichen Liebe
vernahm, war die ganze Jugend, als man
von kleinen Verdrießlichkeiten, die ihm in vor¬
nehmerer Gesellschaft begegnet, sprach, der

23*

ruͤber ich denn ſehr aͤrgerlich wurde, und mich
meiſtens hoͤchſt unartig dagegen aͤußerte. Denn
dieſe Frage zu beantworten, haͤtte ich mein
Werkchen, an dem ich ſo lange geſonnen, um
ſo manchen Elementen eine poetiſche Einheit
zu geben, wieder zerrupfen und die Form zer¬
ſtoͤren muͤſſen, wodurch ja die wahrhaften Be¬
ſtandtheile ſelbſt wo nicht vernichtet, wenig¬
ſtens zerſtreut und verzettelt worden waͤren.
Naͤher betrachtet konnte ich jedoch dem Pu¬
blicum die Forderung nicht veruͤblen. Jeru¬
ſalems Schickſal hatte großes Aufſehen ge¬
macht. Ein gebildeter, liebenswerther, unbe¬
ſcholtener junger Mann, der Sohn eines der
erſten Gottesgelahrten und Schriftſtellers, ge¬
ſund und wohlhabend, ging auf einmal, ohne
bekannte Veranlaſſung, aus der Welt. Jeder¬
man fragte nun, wie das moͤglich geweſen?
und als man von einer ungluͤcklichen Liebe
vernahm, war die ganze Jugend, als man
von kleinen Verdrießlichkeiten, die ihm in vor¬
nehmerer Geſellſchaft begegnet, ſprach, der

23*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0363" n="355"/>
ru&#x0364;ber ich denn &#x017F;ehr a&#x0364;rgerlich wurde, und mich<lb/>
mei&#x017F;tens ho&#x0364;ch&#x017F;t unartig dagegen a&#x0364;ußerte. Denn<lb/>
die&#x017F;e Frage zu beantworten, ha&#x0364;tte ich mein<lb/>
Werkchen, an dem ich &#x017F;o lange ge&#x017F;onnen, um<lb/>
&#x017F;o manchen Elementen eine poeti&#x017F;che Einheit<lb/>
zu geben, wieder zerrupfen und die Form zer¬<lb/>
&#x017F;to&#x0364;ren mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en, wodurch ja die wahrhaften Be¬<lb/>
&#x017F;tandtheile &#x017F;elb&#x017F;t wo nicht vernichtet, wenig¬<lb/>
&#x017F;tens zer&#x017F;treut und verzettelt worden wa&#x0364;ren.<lb/>
Na&#x0364;her betrachtet konnte ich jedoch dem Pu¬<lb/>
blicum die Forderung nicht veru&#x0364;blen. Jeru¬<lb/>
&#x017F;alems Schick&#x017F;al hatte großes Auf&#x017F;ehen ge¬<lb/>
macht. Ein gebildeter, liebenswerther, unbe¬<lb/>
&#x017F;choltener junger Mann, der Sohn eines der<lb/>
er&#x017F;ten Gottesgelahrten und Schrift&#x017F;tellers, ge¬<lb/>
&#x017F;und und wohlhabend, ging auf einmal, ohne<lb/>
bekannte Veranla&#x017F;&#x017F;ung, aus der Welt. Jeder¬<lb/>
man fragte nun, wie das mo&#x0364;glich gewe&#x017F;en?<lb/>
und als man von einer unglu&#x0364;cklichen Liebe<lb/>
vernahm, war die ganze Jugend, als man<lb/>
von kleinen Verdrießlichkeiten, die ihm in vor¬<lb/>
nehmerer Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft begegnet, &#x017F;prach, der<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">23*<lb/></fw>
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[355/0363] ruͤber ich denn ſehr aͤrgerlich wurde, und mich meiſtens hoͤchſt unartig dagegen aͤußerte. Denn dieſe Frage zu beantworten, haͤtte ich mein Werkchen, an dem ich ſo lange geſonnen, um ſo manchen Elementen eine poetiſche Einheit zu geben, wieder zerrupfen und die Form zer¬ ſtoͤren muͤſſen, wodurch ja die wahrhaften Be¬ ſtandtheile ſelbſt wo nicht vernichtet, wenig¬ ſtens zerſtreut und verzettelt worden waͤren. Naͤher betrachtet konnte ich jedoch dem Pu¬ blicum die Forderung nicht veruͤblen. Jeru¬ ſalems Schickſal hatte großes Aufſehen ge¬ macht. Ein gebildeter, liebenswerther, unbe¬ ſcholtener junger Mann, der Sohn eines der erſten Gottesgelahrten und Schriftſtellers, ge¬ ſund und wohlhabend, ging auf einmal, ohne bekannte Veranlaſſung, aus der Welt. Jeder¬ man fragte nun, wie das moͤglich geweſen? und als man von einer ungluͤcklichen Liebe vernahm, war die ganze Jugend, als man von kleinen Verdrießlichkeiten, die ihm in vor¬ nehmerer Geſellſchaft begegnet, ſprach, der 23*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/363
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 355. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/363>, abgerufen am 25.11.2024.