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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814.

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einer verwandten Eigenheit der Leser, die uns
besonders bey denen welche ihr Urtheil drucken
lassen, ganz comisch auffällt, ward ich gleich¬
falls früh bekannt. Sie leben nämlich in dem
Wahn, man werde, indem man etwas leistet,
ihr Schuldner, und bleibe jederzeit noch weit
zurück hinter dem was sie eigentlich wollten
und wünschten, ob sie gleich kurz vorher, ehe
sie unsere Arbeit gesehn, noch gar keinen Be¬
griff hatten, daß so etwas vorhanden oder
nur möglich seyn könnte. Alles dieses bey
Seite gesetzt, so war nun das größte Glück
oder Unglück, daß Jederman von diesem selt¬
samen jungen Autor, der so unvermuthet und
so kühn hervorgetreten, Kenntniß gewinnen
wollte. Man verlangte ihn zu sehen, zu
sprechen, auch in der Ferne etwas von ihm
zu vernehmen, und so hatte er einen höchst
bedeutenden, bald erfreulichen, bald unerquick¬
lichen, immer aber zerstreuenden Zudrang zu
erfahren. Denn es lagen angefangene Arbei¬
ten genug vor ihm, ja es wäre für einige

einer verwandten Eigenheit der Leſer, die uns
beſonders bey denen welche ihr Urtheil drucken
laſſen, ganz comiſch auffaͤllt, ward ich gleich¬
falls fruͤh bekannt. Sie leben naͤmlich in dem
Wahn, man werde, indem man etwas leiſtet,
ihr Schuldner, und bleibe jederzeit noch weit
zuruͤck hinter dem was ſie eigentlich wollten
und wuͤnſchten, ob ſie gleich kurz vorher, ehe
ſie unſere Arbeit geſehn, noch gar keinen Be¬
griff hatten, daß ſo etwas vorhanden oder
nur moͤglich ſeyn koͤnnte. Alles dieſes bey
Seite geſetzt, ſo war nun das groͤßte Gluͤck
oder Ungluͤck, daß Jederman von dieſem ſelt¬
ſamen jungen Autor, der ſo unvermuthet und
ſo kuͤhn hervorgetreten, Kenntniß gewinnen
wollte. Man verlangte ihn zu ſehen, zu
ſprechen, auch in der Ferne etwas von ihm
zu vernehmen, und ſo hatte er einen hoͤchſt
bedeutenden, bald erfreulichen, bald unerquick¬
lichen, immer aber zerſtreuenden Zudrang zu
erfahren. Denn es lagen angefangene Arbei¬
ten genug vor ihm, ja es waͤre fuͤr einige

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[359/0367] einer verwandten Eigenheit der Leſer, die uns beſonders bey denen welche ihr Urtheil drucken laſſen, ganz comiſch auffaͤllt, ward ich gleich¬ falls fruͤh bekannt. Sie leben naͤmlich in dem Wahn, man werde, indem man etwas leiſtet, ihr Schuldner, und bleibe jederzeit noch weit zuruͤck hinter dem was ſie eigentlich wollten und wuͤnſchten, ob ſie gleich kurz vorher, ehe ſie unſere Arbeit geſehn, noch gar keinen Be¬ griff hatten, daß ſo etwas vorhanden oder nur moͤglich ſeyn koͤnnte. Alles dieſes bey Seite geſetzt, ſo war nun das groͤßte Gluͤck oder Ungluͤck, daß Jederman von dieſem ſelt¬ ſamen jungen Autor, der ſo unvermuthet und ſo kuͤhn hervorgetreten, Kenntniß gewinnen wollte. Man verlangte ihn zu ſehen, zu ſprechen, auch in der Ferne etwas von ihm zu vernehmen, und ſo hatte er einen hoͤchſt bedeutenden, bald erfreulichen, bald unerquick¬ lichen, immer aber zerſtreuenden Zudrang zu erfahren. Denn es lagen angefangene Arbei¬ ten genug vor ihm, ja es waͤre fuͤr einige

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 359. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/367>, abgerufen am 25.11.2024.