Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814.

Bild:
<< vorherige Seite

sollen, von meinen Lippen in mein eignes
Herz zurückgeschlagen.

Das alles ras'te zusammen in meinem durch
Liebe und Leidenschaft, Wein und Tanz auf¬
geregten Blute, verwirrte mein Denken, pei¬
nigte mein Gefühl, so daß ich, besonders im
Gegensatz mit den gestrigen behaglichen Freu¬
den, mich in einer Verzweiflung fühlte, die
ohne Grenzen schien. Glücklicherweise blickte
durch eine Spalte im Laden das Tagslicht
mich an, und alle Mächte der Nacht überwin¬
dend stellte mich die hervortretende Sonne wie¬
der auf meine Füße; ich war bald im Freyen
und schnell erquickt, wo nicht hergestellt.

Der Aberglaube, so wie manches andre
Wähnen, verliert sehr leicht an seiner Ge¬
walt, wenn er, statt unserer Eitelkeit zu
schmeicheln, ihr in den Weg tritt, und die¬
sem zarten Wesen eine böse Stunde machen
will; wir sehen alsdann recht gut, daß wir

III. 3

ſollen, von meinen Lippen in mein eignes
Herz zuruͤckgeſchlagen.

Das alles raſ'te zuſammen in meinem durch
Liebe und Leidenſchaft, Wein und Tanz auf¬
geregten Blute, verwirrte mein Denken, pei¬
nigte mein Gefuͤhl, ſo daß ich, beſonders im
Gegenſatz mit den geſtrigen behaglichen Freu¬
den, mich in einer Verzweiflung fuͤhlte, die
ohne Grenzen ſchien. Gluͤcklicherweiſe blickte
durch eine Spalte im Laden das Tagslicht
mich an, und alle Maͤchte der Nacht uͤberwin¬
dend ſtellte mich die hervortretende Sonne wie¬
der auf meine Fuͤße; ich war bald im Freyen
und ſchnell erquickt, wo nicht hergeſtellt.

Der Aberglaube, ſo wie manches andre
Waͤhnen, verliert ſehr leicht an ſeiner Ge¬
walt, wenn er, ſtatt unſerer Eitelkeit zu
ſchmeicheln, ihr in den Weg tritt, und die¬
ſem zarten Weſen eine boͤſe Stunde machen
will; wir ſehen alsdann recht gut, daß wir

III. 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0041" n="33"/>
&#x017F;ollen, von meinen Lippen in mein eignes<lb/>
Herz zuru&#x0364;ckge&#x017F;chlagen.</p><lb/>
        <p>Das alles ra&#x017F;'te zu&#x017F;ammen in meinem durch<lb/>
Liebe und Leiden&#x017F;chaft, Wein und Tanz auf¬<lb/>
geregten Blute, verwirrte mein Denken, pei¬<lb/>
nigte mein Gefu&#x0364;hl, &#x017F;o daß ich, be&#x017F;onders im<lb/>
Gegen&#x017F;atz mit den ge&#x017F;trigen behaglichen Freu¬<lb/>
den, mich in einer Verzweiflung fu&#x0364;hlte, die<lb/>
ohne Grenzen &#x017F;chien. Glu&#x0364;cklicherwei&#x017F;e blickte<lb/>
durch eine Spalte im Laden das Tagslicht<lb/>
mich an, und alle Ma&#x0364;chte der Nacht u&#x0364;berwin¬<lb/>
dend &#x017F;tellte mich die hervortretende Sonne wie¬<lb/>
der auf meine Fu&#x0364;ße; ich war bald im Freyen<lb/>
und &#x017F;chnell erquickt, wo nicht herge&#x017F;tellt.</p><lb/>
        <p>Der Aberglaube, &#x017F;o wie manches andre<lb/>
Wa&#x0364;hnen, verliert &#x017F;ehr leicht an &#x017F;einer Ge¬<lb/>
walt, wenn er, &#x017F;tatt un&#x017F;erer Eitelkeit zu<lb/>
&#x017F;chmeicheln, ihr in den Weg tritt, und die¬<lb/>
&#x017F;em zarten We&#x017F;en eine bo&#x0364;&#x017F;e Stunde machen<lb/>
will; wir &#x017F;ehen alsdann recht gut, daß wir<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">III. 3<lb/></fw>
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[33/0041] ſollen, von meinen Lippen in mein eignes Herz zuruͤckgeſchlagen. Das alles raſ'te zuſammen in meinem durch Liebe und Leidenſchaft, Wein und Tanz auf¬ geregten Blute, verwirrte mein Denken, pei¬ nigte mein Gefuͤhl, ſo daß ich, beſonders im Gegenſatz mit den geſtrigen behaglichen Freu¬ den, mich in einer Verzweiflung fuͤhlte, die ohne Grenzen ſchien. Gluͤcklicherweiſe blickte durch eine Spalte im Laden das Tagslicht mich an, und alle Maͤchte der Nacht uͤberwin¬ dend ſtellte mich die hervortretende Sonne wie¬ der auf meine Fuͤße; ich war bald im Freyen und ſchnell erquickt, wo nicht hergeſtellt. Der Aberglaube, ſo wie manches andre Waͤhnen, verliert ſehr leicht an ſeiner Ge¬ walt, wenn er, ſtatt unſerer Eitelkeit zu ſchmeicheln, ihr in den Weg tritt, und die¬ ſem zarten Weſen eine boͤſe Stunde machen will; wir ſehen alsdann recht gut, daß wir III. 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/41
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 33. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/41>, abgerufen am 21.11.2024.