Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814.

Bild:
<< vorherige Seite

Liebe zu mir recht unselig vor; ich wünschte
über alle Berge zu seyn.

Was aber noch schmerzlicheres für mich
im Hintergrunde lag, will ich nicht verheh¬
len. Ein gewisser Dünkel unterhielt bey mir
jenen Aberglauben; meine Lippen -- geweiht
oder verwünscht -- kamen mir bedeutender
vor als sonst, und mit nicht geringer Selbst¬
gefälligkeit war ich mir meines enthaltsamen
Betragens bewußt, indem ich mir manche
unschuldige Freude versagte, theils um jenen
magischen Vorzug zu bewahren, theils um
ein harmloses Wesen nicht zu verletzen, wenn
ich ihn aufgäbe.

Nunmehr aber war alles verloren und
unwiederbringlich; ich war in einen gemeinen
Zustand zurückgekehrt, ich glaubte das liebste
Wesen verletzt, ihr unwiederbringlich gescha¬
det zu haben; und so war jene Verwün¬
schung, anstatt daß ich sie hätte los werden

Liebe zu mir recht unſelig vor; ich wuͤnſchte
uͤber alle Berge zu ſeyn.

Was aber noch ſchmerzlicheres fuͤr mich
im Hintergrunde lag, will ich nicht verheh¬
len. Ein gewiſſer Duͤnkel unterhielt bey mir
jenen Aberglauben; meine Lippen — geweiht
oder verwuͤnſcht — kamen mir bedeutender
vor als ſonſt, und mit nicht geringer Selbſt¬
gefaͤlligkeit war ich mir meines enthaltſamen
Betragens bewußt, indem ich mir manche
unſchuldige Freude verſagte, theils um jenen
magiſchen Vorzug zu bewahren, theils um
ein harmloſes Weſen nicht zu verletzen, wenn
ich ihn aufgaͤbe.

Nunmehr aber war alles verloren und
unwiederbringlich; ich war in einen gemeinen
Zuſtand zuruͤckgekehrt, ich glaubte das liebſte
Weſen verletzt, ihr unwiederbringlich geſcha¬
det zu haben; und ſo war jene Verwuͤn¬
ſchung, anſtatt daß ich ſie haͤtte los werden

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0040" n="32"/>
Liebe zu mir recht un&#x017F;elig vor; ich wu&#x0364;n&#x017F;chte<lb/>
u&#x0364;ber alle Berge zu &#x017F;eyn.</p><lb/>
        <p>Was aber noch &#x017F;chmerzlicheres fu&#x0364;r mich<lb/>
im Hintergrunde lag, will ich nicht verheh¬<lb/>
len. Ein gewi&#x017F;&#x017F;er Du&#x0364;nkel unterhielt bey mir<lb/>
jenen Aberglauben; meine Lippen &#x2014; geweiht<lb/>
oder verwu&#x0364;n&#x017F;cht &#x2014; kamen mir bedeutender<lb/>
vor als &#x017F;on&#x017F;t, und mit nicht geringer Selb&#x017F;<lb/>
gefa&#x0364;lligkeit war ich mir meines enthalt&#x017F;amen<lb/>
Betragens bewußt, indem ich mir manche<lb/>
un&#x017F;chuldige Freude ver&#x017F;agte, theils um jenen<lb/>
magi&#x017F;chen Vorzug zu bewahren, theils um<lb/>
ein harmlo&#x017F;es We&#x017F;en nicht zu verletzen, wenn<lb/>
ich ihn aufga&#x0364;be.</p><lb/>
        <p>Nunmehr aber war alles verloren und<lb/>
unwiederbringlich; ich war in einen gemeinen<lb/>
Zu&#x017F;tand zuru&#x0364;ckgekehrt, ich glaubte das lieb&#x017F;te<lb/>
We&#x017F;en verletzt, ihr unwiederbringlich ge&#x017F;cha¬<lb/>
det zu haben; und &#x017F;o war jene Verwu&#x0364;<lb/>
&#x017F;chung, an&#x017F;tatt daß ich &#x017F;ie ha&#x0364;tte los werden<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[32/0040] Liebe zu mir recht unſelig vor; ich wuͤnſchte uͤber alle Berge zu ſeyn. Was aber noch ſchmerzlicheres fuͤr mich im Hintergrunde lag, will ich nicht verheh¬ len. Ein gewiſſer Duͤnkel unterhielt bey mir jenen Aberglauben; meine Lippen — geweiht oder verwuͤnſcht — kamen mir bedeutender vor als ſonſt, und mit nicht geringer Selbſt¬ gefaͤlligkeit war ich mir meines enthaltſamen Betragens bewußt, indem ich mir manche unſchuldige Freude verſagte, theils um jenen magiſchen Vorzug zu bewahren, theils um ein harmloſes Weſen nicht zu verletzen, wenn ich ihn aufgaͤbe. Nunmehr aber war alles verloren und unwiederbringlich; ich war in einen gemeinen Zuſtand zuruͤckgekehrt, ich glaubte das liebſte Weſen verletzt, ihr unwiederbringlich geſcha¬ det zu haben; und ſo war jene Verwuͤn¬ ſchung, anſtatt daß ich ſie haͤtte los werden

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/40
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 32. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/40>, abgerufen am 03.12.2024.