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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814.

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tete, so konnte ich doch im gegenwärtigen Fall
bemerken, daß Männer und Frauen einen
verschiedenen Heiland bedürfen. Fräulein von
Klettenberg verhielt sich zu dem ihrigen wie
zu einem Geliebten, dem man sich unbedingt
hingiebt, alle Freude und Hoffnung auf seine
Person legt, und ihm ohne Zweifel und Be¬
denken das Schicksal des Lebens anvertraut.
Lavater hingegen behandelte den seinigen als
einen Freund, dem man neidlos und liebe¬
voll nacheifert, seine Verdienste anerkennt, sie
hochpreist, und eben deswegen ihm ähnlich
ja gleich zu werden bemüht ist. Welch ein
Unterschied zwischen beyderley Richtung! wo¬
durch im Allgemeinen die geistigen Bedürf¬
nisse der zwey Geschlechter ausgesprochen wer¬
den. Daraus mag es auch zu erklären seyn,
daß zärtere Männer sich an die Mutter Got¬
tes gewendet, ihr, als einem Ausbund weib¬
licher Schönheit und Tugend, wie Sanna¬
zar gethan, Leben und Talente gewidmet,

tete, ſo konnte ich doch im gegenwaͤrtigen Fall
bemerken, daß Maͤnner und Frauen einen
verſchiedenen Heiland beduͤrfen. Fraͤulein von
Klettenberg verhielt ſich zu dem ihrigen wie
zu einem Geliebten, dem man ſich unbedingt
hingiebt, alle Freude und Hoffnung auf ſeine
Perſon legt, und ihm ohne Zweifel und Be¬
denken das Schickſal des Lebens anvertraut.
Lavater hingegen behandelte den ſeinigen als
einen Freund, dem man neidlos und liebe¬
voll nacheifert, ſeine Verdienſte anerkennt, ſie
hochpreiſt, und eben deswegen ihm aͤhnlich
ja gleich zu werden bemuͤht iſt. Welch ein
Unterſchied zwiſchen beyderley Richtung! wo¬
durch im Allgemeinen die geiſtigen Beduͤrf¬
niſſe der zwey Geſchlechter ausgeſprochen wer¬
den. Daraus mag es auch zu erklaͤren ſeyn,
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[410/0418] tete, ſo konnte ich doch im gegenwaͤrtigen Fall bemerken, daß Maͤnner und Frauen einen verſchiedenen Heiland beduͤrfen. Fraͤulein von Klettenberg verhielt ſich zu dem ihrigen wie zu einem Geliebten, dem man ſich unbedingt hingiebt, alle Freude und Hoffnung auf ſeine Perſon legt, und ihm ohne Zweifel und Be¬ denken das Schickſal des Lebens anvertraut. Lavater hingegen behandelte den ſeinigen als einen Freund, dem man neidlos und liebe¬ voll nacheifert, ſeine Verdienſte anerkennt, ſie hochpreiſt, und eben deswegen ihm aͤhnlich ja gleich zu werden bemuͤht iſt. Welch ein Unterſchied zwiſchen beyderley Richtung! wo¬ durch im Allgemeinen die geiſtigen Beduͤrf¬ niſſe der zwey Geſchlechter ausgeſprochen wer¬ den. Daraus mag es auch zu erklaͤren ſeyn, daß zaͤrtere Maͤnner ſich an die Mutter Got¬ tes gewendet, ihr, als einem Ausbund weib¬ licher Schoͤnheit und Tugend, wie Sanna¬ zar gethan, Leben und Talente gewidmet,

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 410. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/418>, abgerufen am 27.11.2024.