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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814.

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und allenfalls nebenher mit dem göttlichen
Knaben gespielt haben.

Wie meine beyden Freunde zu einander
standen, wie sie gegen einander gesinnt wa¬
ren, erfuhr ich nicht allein aus Gesprächen,
denen ich beywohnte, sondern auch aus Er¬
öffnungen, welche mir beyde ingeheim thaten.
Ich konnte weder dem einen nach dem andern
völlig zustimmen: denn mein Christus hatte
auch seine eigne Gestalt nach meinem Sinne
angenommen. Weil sie mir aber den meini¬
gen gar nicht wollten gelten lassen, so quäl¬
te ich sie mit allerley Paradoxien und Extre¬
men, und wenn sie ungeduldig werden woll¬
ten, entfernte ich mich mit einem Scherze.

Der Streit zwischen Wissen und Glauben
war noch nicht an der Tagesordnung, allein
die beyden Worte und die Begriffe die man
damit verknüpft, kamen wohl auch gelegent¬
lich vor, und die wahren Weltverächter be¬

und allenfalls nebenher mit dem goͤttlichen
Knaben geſpielt haben.

Wie meine beyden Freunde zu einander
ſtanden, wie ſie gegen einander geſinnt wa¬
ren, erfuhr ich nicht allein aus Geſpraͤchen,
denen ich beywohnte, ſondern auch aus Er¬
oͤffnungen, welche mir beyde ingeheim thaten.
Ich konnte weder dem einen nach dem andern
voͤllig zuſtimmen: denn mein Chriſtus hatte
auch ſeine eigne Geſtalt nach meinem Sinne
angenommen. Weil ſie mir aber den meini¬
gen gar nicht wollten gelten laſſen, ſo quaͤl¬
te ich ſie mit allerley Paradoxien und Extre¬
men, und wenn ſie ungeduldig werden woll¬
ten, entfernte ich mich mit einem Scherze.

Der Streit zwiſchen Wiſſen und Glauben
war noch nicht an der Tagesordnung, allein
die beyden Worte und die Begriffe die man
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[411/0419] und allenfalls nebenher mit dem goͤttlichen Knaben geſpielt haben. Wie meine beyden Freunde zu einander ſtanden, wie ſie gegen einander geſinnt wa¬ ren, erfuhr ich nicht allein aus Geſpraͤchen, denen ich beywohnte, ſondern auch aus Er¬ oͤffnungen, welche mir beyde ingeheim thaten. Ich konnte weder dem einen nach dem andern voͤllig zuſtimmen: denn mein Chriſtus hatte auch ſeine eigne Geſtalt nach meinem Sinne angenommen. Weil ſie mir aber den meini¬ gen gar nicht wollten gelten laſſen, ſo quaͤl¬ te ich ſie mit allerley Paradoxien und Extre¬ men, und wenn ſie ungeduldig werden woll¬ ten, entfernte ich mich mit einem Scherze. Der Streit zwiſchen Wiſſen und Glauben war noch nicht an der Tagesordnung, allein die beyden Worte und die Begriffe die man damit verknuͤpft, kamen wohl auch gelegent¬ lich vor, und die wahren Weltveraͤchter be¬

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 411. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/419>, abgerufen am 27.11.2024.