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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814.

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zählen, oder auf bekannte Begebenheiten an¬
spielen, leicht schildern, vorübergehend reflec¬
tiren, immer war es, als wenn sie auch mit
der Feder gehend, kommend, laufend, sprin¬
gend, so leicht aufträte als sicher. Auch ich
schrieb sehr gern an sie: denn die Vergegen¬
wärtigung ihrer Vorzüge vermehrte meine
Neigung auch in der Abwesenheit, so daß
diese Unterhaltung einer persönlichen wenig
nachgab, ja in der Folge mir sogar angeneh¬
mer, theurer wurde.

Denn jener Aberglaube hatte völlig wei¬
chen müssen. Er gründete sich zwar auf Ein¬
drücke früherer Jahre, allein der Geist des
Tags, das Rasche der Jugend, der Um¬
gang mit kalten, verständigen Männern, al¬
les war ihm ungünstig, so daß sich nicht
leicht Jemand in meiner ganzen Umgebung
gefunden hätte, dem nicht ein Bekenntniß
meiner Grille vollkommen lächerlich gewesen
wäre. Allein das Schlimmste war, daß je¬

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zaͤhlen, oder auf bekannte Begebenheiten an¬
ſpielen, leicht ſchildern, voruͤbergehend reflec¬
tiren, immer war es, als wenn ſie auch mit
der Feder gehend, kommend, laufend, ſprin¬
gend, ſo leicht auftraͤte als ſicher. Auch ich
ſchrieb ſehr gern an ſie: denn die Vergegen¬
waͤrtigung ihrer Vorzuͤge vermehrte meine
Neigung auch in der Abweſenheit, ſo daß
dieſe Unterhaltung einer perſoͤnlichen wenig
nachgab, ja in der Folge mir ſogar angeneh¬
mer, theurer wurde.

Denn jener Aberglaube hatte voͤllig wei¬
chen muͤſſen. Er gruͤndete ſich zwar auf Ein¬
druͤcke fruͤherer Jahre, allein der Geiſt des
Tags, das Raſche der Jugend, der Um¬
gang mit kalten, verſtaͤndigen Maͤnnern, al¬
les war ihm unguͤnſtig, ſo daß ſich nicht
leicht Jemand in meiner ganzen Umgebung
gefunden haͤtte, dem nicht ein Bekenntniß
meiner Grille vollkommen laͤcherlich geweſen
waͤre. Allein das Schlimmſte war, daß je¬

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[35/0043] zaͤhlen, oder auf bekannte Begebenheiten an¬ ſpielen, leicht ſchildern, voruͤbergehend reflec¬ tiren, immer war es, als wenn ſie auch mit der Feder gehend, kommend, laufend, ſprin¬ gend, ſo leicht auftraͤte als ſicher. Auch ich ſchrieb ſehr gern an ſie: denn die Vergegen¬ waͤrtigung ihrer Vorzuͤge vermehrte meine Neigung auch in der Abweſenheit, ſo daß dieſe Unterhaltung einer perſoͤnlichen wenig nachgab, ja in der Folge mir ſogar angeneh¬ mer, theurer wurde. Denn jener Aberglaube hatte voͤllig wei¬ chen muͤſſen. Er gruͤndete ſich zwar auf Ein¬ druͤcke fruͤherer Jahre, allein der Geiſt des Tags, das Raſche der Jugend, der Um¬ gang mit kalten, verſtaͤndigen Maͤnnern, al¬ les war ihm unguͤnſtig, ſo daß ſich nicht leicht Jemand in meiner ganzen Umgebung gefunden haͤtte, dem nicht ein Bekenntniß meiner Grille vollkommen laͤcherlich geweſen waͤre. Allein das Schlimmſte war, daß je¬ 3 *

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 35. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/43>, abgerufen am 05.05.2024.