Religiöse Gespräche hatte ich bisher sachte abgelehnt, und verständige Anfragen selten mit Bescheidenheit erwiedert, weil sie mir gegen das was ich suchte, nur allzu beschränkt schienen. Wenn man mir seine Gefühle, seine Meynungen über meine eignen Productionen aufdringen wollte, besonders aber wenn man mich mit den Forderungen des Alltagsver¬ standes peinigte und mir sehr entschieden vor¬ trug, was ich hätte thun und lassen sollen, dann zerriß der Geduldsfaden, und das Ge¬ spräch zerbrach oder zerbröckelte sich, so daß Niemand mit einer sonderlich günstigen Mey¬ nung von mir scheiden konnte. Viel natürli¬ cher wäre mir gewesen, mich freundlich und zart zu erweisen; aber mein Gemüth wollte nicht geschulmeistert, sondern durch freyes Wohlwollen aufgeschlossen, und durch wahre Theilnahme zur Hingebung angeregt seyn. Ein Gefühl aber, das bey mir gewaltig über¬ hand nahm, und sich nicht wundersam ge¬
Religioͤſe Geſpraͤche hatte ich bisher ſachte abgelehnt, und verſtaͤndige Anfragen ſelten mit Beſcheidenheit erwiedert, weil ſie mir gegen das was ich ſuchte, nur allzu beſchraͤnkt ſchienen. Wenn man mir ſeine Gefuͤhle, ſeine Meynungen uͤber meine eignen Productionen aufdringen wollte, beſonders aber wenn man mich mit den Forderungen des Alltagsver¬ ſtandes peinigte und mir ſehr entſchieden vor¬ trug, was ich haͤtte thun und laſſen ſollen, dann zerriß der Geduldsfaden, und das Ge¬ ſpraͤch zerbrach oder zerbroͤckelte ſich, ſo daß Niemand mit einer ſonderlich guͤnſtigen Mey¬ nung von mir ſcheiden konnte. Viel natuͤrli¬ cher waͤre mir geweſen, mich freundlich und zart zu erweiſen; aber mein Gemuͤth wollte nicht geſchulmeiſtert, ſondern durch freyes Wohlwollen aufgeſchloſſen, und durch wahre Theilnahme zur Hingebung angeregt ſeyn. Ein Gefuͤhl aber, das bey mir gewaltig uͤber¬ hand nahm, und ſich nicht wunderſam ge¬
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Religioͤſe Geſpraͤche hatte ich bisher ſachte
abgelehnt, und verſtaͤndige Anfragen ſelten
mit Beſcheidenheit erwiedert, weil ſie mir
gegen das was ich ſuchte, nur allzu beſchraͤnkt
ſchienen. Wenn man mir ſeine Gefuͤhle, ſeine
Meynungen uͤber meine eignen Productionen
aufdringen wollte, beſonders aber wenn man
mich mit den Forderungen des Alltagsver¬
ſtandes peinigte und mir ſehr entſchieden vor¬
trug, was ich haͤtte thun und laſſen ſollen,
dann zerriß der Geduldsfaden, und das Ge¬
ſpraͤch zerbrach oder zerbroͤckelte ſich, ſo daß
Niemand mit einer ſonderlich guͤnſtigen Mey¬
nung von mir ſcheiden konnte. Viel natuͤrli¬
cher waͤre mir geweſen, mich freundlich und
zart zu erweiſen; aber mein Gemuͤth wollte
nicht geſchulmeiſtert, ſondern durch freyes
Wohlwollen aufgeſchloſſen, und durch wahre
Theilnahme zur Hingebung angeregt ſeyn.
Ein Gefuͤhl aber, das bey mir gewaltig uͤber¬
hand nahm, und ſich nicht wunderſam ge¬
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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 434. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/442>, abgerufen am 24.11.2024.
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