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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814.

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ihren früheren Zustand dem neuern vorziehen
durfte. Sie blieb immer freundlich und sanft,
und schien meiner und meines Heils wegen
nicht in der mindesten Sorge zu seyn.

Daß ich mich aber nach und nach immer
mehr von jenem Bekenntniß entfernte, kam
daher, weil ich dasselbe mit allzu großem Ernst,
mit leidenschaftlicher Liebe zu ergreifen gesucht
hatte. Seit meiner Annäherung an die Brü¬
dergemeine hatte meine Neigung zu dieser Ge¬
sellschaft, die sich unter der Siegesfahne Christi
versammelte, immer zugenommen. Jede posi¬
tive Religion hat ihren größten Reiz wenn sie
im Werden begriffen ist; deswegen ist es so
angenehm, sich in die Zeiten der Apostel zu
denken, wo sich alles noch frisch und unmit¬
telbar geistig darstellt, und die Brüdergemeine
hatte hierin etwas Magisches, daß sie jenen
ersten Zustand fortzusetzen, ja zu verewigen
schien. Sie knüpfte ihren Ursprung an die früh¬
sten Zeiten an, sie war niemals fertig geworden,

ihren fruͤheren Zuſtand dem neuern vorziehen
durfte. Sie blieb immer freundlich und ſanft,
und ſchien meiner und meines Heils wegen
nicht in der mindeſten Sorge zu ſeyn.

Daß ich mich aber nach und nach immer
mehr von jenem Bekenntniß entfernte, kam
daher, weil ich daſſelbe mit allzu großem Ernſt,
mit leidenſchaftlicher Liebe zu ergreifen geſucht
hatte. Seit meiner Annaͤherung an die Bruͤ¬
dergemeine hatte meine Neigung zu dieſer Ge¬
ſellſchaft, die ſich unter der Siegesfahne Chriſti
verſammelte, immer zugenommen. Jede poſi¬
tive Religion hat ihren groͤßten Reiz wenn ſie
im Werden begriffen iſt; deswegen iſt es ſo
angenehm, ſich in die Zeiten der Apoſtel zu
denken, wo ſich alles noch friſch und unmit¬
telbar geiſtig darſtellt, und die Bruͤdergemeine
hatte hierin etwas Magiſches, daß ſie jenen
erſten Zuſtand fortzuſetzen, ja zu verewigen
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[462/0470] ihren fruͤheren Zuſtand dem neuern vorziehen durfte. Sie blieb immer freundlich und ſanft, und ſchien meiner und meines Heils wegen nicht in der mindeſten Sorge zu ſeyn. Daß ich mich aber nach und nach immer mehr von jenem Bekenntniß entfernte, kam daher, weil ich daſſelbe mit allzu großem Ernſt, mit leidenſchaftlicher Liebe zu ergreifen geſucht hatte. Seit meiner Annaͤherung an die Bruͤ¬ dergemeine hatte meine Neigung zu dieſer Ge¬ ſellſchaft, die ſich unter der Siegesfahne Chriſti verſammelte, immer zugenommen. Jede poſi¬ tive Religion hat ihren groͤßten Reiz wenn ſie im Werden begriffen iſt; deswegen iſt es ſo angenehm, ſich in die Zeiten der Apoſtel zu denken, wo ſich alles noch friſch und unmit¬ telbar geiſtig darſtellt, und die Bruͤdergemeine hatte hierin etwas Magiſches, daß ſie jenen erſten Zuſtand fortzuſetzen, ja zu verewigen ſchien. Sie knuͤpfte ihren Urſprung an die fruͤh¬ ſten Zeiten an, ſie war niemals fertig geworden,

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 462. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/470>, abgerufen am 23.11.2024.