Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814.

Bild:
<< vorherige Seite

das eigentliche Dilemma hatte ich mir nie
ausgesprochen. Aus diesem Traume wurde
ich jedoch einst ganz unvermuthet gerissen,
als ich diese meine, wie mir schien, höchst
unschuldige Meynung, in einem geistlichen
Gespräch ganz unbewunden eröffnete, und
deshalb eine große Strafpredigt erdulden mu߬
te. Dieß sey eben, behauptete man mir ent¬
gegen, der wahre Pelagianismus, und gerade
zum Unglück der neueren Zeit, wolle diese
verderbliche Lehre wieder um sich greifen.
Ich war hierüber erstaunt, ja erschrocken.
Ich ging in die Kirchengeschichte zurück, be¬
trachtete die Lehre und die Schicksale des Pe¬
lagius näher, und sah nun deutlich, wie
diese beyden unvereinbaren Meynungen durch
Jahrhunderte hin und hergewogt, und von
den Menschen, je nachdem sie mehr thätiger
oder leidender Natur gewesen, aufgenommen
und bekannt worden.

das eigentliche Dilemma hatte ich mir nie
ausgeſprochen. Aus dieſem Traume wurde
ich jedoch einſt ganz unvermuthet geriſſen,
als ich dieſe meine, wie mir ſchien, hoͤchſt
unſchuldige Meynung, in einem geiſtlichen
Geſpraͤch ganz unbewunden eroͤffnete, und
deshalb eine große Strafpredigt erdulden mu߬
te. Dieß ſey eben, behauptete man mir ent¬
gegen, der wahre Pelagianismus, und gerade
zum Ungluͤck der neueren Zeit, wolle dieſe
verderbliche Lehre wieder um ſich greifen.
Ich war hieruͤber erſtaunt, ja erſchrocken.
Ich ging in die Kirchengeſchichte zuruͤck, be¬
trachtete die Lehre und die Schickſale des Pe¬
lagius naͤher, und ſah nun deutlich, wie
dieſe beyden unvereinbaren Meynungen durch
Jahrhunderte hin und hergewogt, und von
den Menſchen, je nachdem ſie mehr thaͤtiger
oder leidender Natur geweſen, aufgenommen
und bekannt worden.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0474" n="466"/>
das eigentliche Dilemma hatte ich mir nie<lb/>
ausge&#x017F;prochen. Aus die&#x017F;em Traume wurde<lb/>
ich jedoch ein&#x017F;t ganz unvermuthet geri&#x017F;&#x017F;en,<lb/>
als ich die&#x017F;e meine, wie mir &#x017F;chien, ho&#x0364;ch&#x017F;t<lb/>
un&#x017F;chuldige Meynung, in einem gei&#x017F;tlichen<lb/>
Ge&#x017F;pra&#x0364;ch ganz unbewunden ero&#x0364;ffnete, und<lb/>
deshalb eine große Strafpredigt erdulden mu߬<lb/>
te. Dieß &#x017F;ey eben, behauptete man mir ent¬<lb/>
gegen, der wahre Pelagianismus, und gerade<lb/>
zum Unglu&#x0364;ck der neueren Zeit, wolle die&#x017F;e<lb/>
verderbliche Lehre wieder um &#x017F;ich greifen.<lb/>
Ich war hieru&#x0364;ber er&#x017F;taunt, ja er&#x017F;chrocken.<lb/>
Ich ging in die Kirchenge&#x017F;chichte zuru&#x0364;ck, be¬<lb/>
trachtete die Lehre und die Schick&#x017F;ale des Pe¬<lb/>
lagius na&#x0364;her, und &#x017F;ah nun deutlich, wie<lb/>
die&#x017F;e beyden unvereinbaren Meynungen durch<lb/>
Jahrhunderte hin und hergewogt, und von<lb/>
den Men&#x017F;chen, je nachdem &#x017F;ie mehr tha&#x0364;tiger<lb/>
oder leidender Natur gewe&#x017F;en, aufgenommen<lb/>
und bekannt worden.</p><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[466/0474] das eigentliche Dilemma hatte ich mir nie ausgeſprochen. Aus dieſem Traume wurde ich jedoch einſt ganz unvermuthet geriſſen, als ich dieſe meine, wie mir ſchien, hoͤchſt unſchuldige Meynung, in einem geiſtlichen Geſpraͤch ganz unbewunden eroͤffnete, und deshalb eine große Strafpredigt erdulden mu߬ te. Dieß ſey eben, behauptete man mir ent¬ gegen, der wahre Pelagianismus, und gerade zum Ungluͤck der neueren Zeit, wolle dieſe verderbliche Lehre wieder um ſich greifen. Ich war hieruͤber erſtaunt, ja erſchrocken. Ich ging in die Kirchengeſchichte zuruͤck, be¬ trachtete die Lehre und die Schickſale des Pe¬ lagius naͤher, und ſah nun deutlich, wie dieſe beyden unvereinbaren Meynungen durch Jahrhunderte hin und hergewogt, und von den Menſchen, je nachdem ſie mehr thaͤtiger oder leidender Natur geweſen, aufgenommen und bekannt worden.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/474
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 466. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/474>, abgerufen am 23.11.2024.