Mich hatte der Lauf der vergangenen Jahre unablässig zu Uebung eigner Kraft auf¬ gefordert, in mir arbeitete eine rastlose Thä¬ tigkeit, mit dem besten Willen, zu moralischer Ausbildung. Die Außenwelt forderte, daß diese Thätigkeit geregelt und zum Nutzen anderer gebraucht werden sollte, und ich hatte diese große Forderung in mir selbst zu verar¬ beiten. Nach allen Seiten hin war ich an die Natur gewiesen, sie war mir in ihrer Herrlichkeit erschienen; ich hatte so viel wak¬ kere und brave Menschen kennen gelernt, die sich's in ihrer Pflicht, um der Pflicht willen, sauer werden ließen; ihnen, ja mir selbst zu entsagen, schien mir unmöglich; die Kluft die mich von jener Lehre trennte ward mir deutlich, ich mußte also auch aus dieser Ge¬ sellschaft scheiden, und da mir meine Neigung zu den heiligen Schriften so wie zu dem Stifter und den früheren Bekennern nicht ge¬ raubt werden konnte, so bildete ich mir ein Christenthum zu meinem Privatgebrauch, und
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Mich hatte der Lauf der vergangenen Jahre unablaͤſſig zu Uebung eigner Kraft auf¬ gefordert, in mir arbeitete eine raſtloſe Thaͤ¬ tigkeit, mit dem beſten Willen, zu moraliſcher Ausbildung. Die Außenwelt forderte, daß dieſe Thaͤtigkeit geregelt und zum Nutzen anderer gebraucht werden ſollte, und ich hatte dieſe große Forderung in mir ſelbſt zu verar¬ beiten. Nach allen Seiten hin war ich an die Natur gewieſen, ſie war mir in ihrer Herrlichkeit erſchienen; ich hatte ſo viel wak¬ kere und brave Menſchen kennen gelernt, die ſich's in ihrer Pflicht, um der Pflicht willen, ſauer werden ließen; ihnen, ja mir ſelbſt zu entſagen, ſchien mir unmoͤglich; die Kluft die mich von jener Lehre trennte ward mir deutlich, ich mußte alſo auch aus dieſer Ge¬ ſellſchaft ſcheiden, und da mir meine Neigung zu den heiligen Schriften ſo wie zu dem Stifter und den fruͤheren Bekennern nicht ge¬ raubt werden konnte, ſo bildete ich mir ein Chriſtenthum zu meinem Privatgebrauch, und
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Mich hatte der Lauf der vergangenen
Jahre unablaͤſſig zu Uebung eigner Kraft auf¬
gefordert, in mir arbeitete eine raſtloſe Thaͤ¬
tigkeit, mit dem beſten Willen, zu moraliſcher
Ausbildung. Die Außenwelt forderte, daß
dieſe Thaͤtigkeit geregelt und zum Nutzen
anderer gebraucht werden ſollte, und ich hatte
dieſe große Forderung in mir ſelbſt zu verar¬
beiten. Nach allen Seiten hin war ich an
die Natur gewieſen, ſie war mir in ihrer
Herrlichkeit erſchienen; ich hatte ſo viel wak¬
kere und brave Menſchen kennen gelernt, die
ſich's in ihrer Pflicht, um der Pflicht willen,
ſauer werden ließen; ihnen, ja mir ſelbſt zu
entſagen, ſchien mir unmoͤglich; die Kluft
die mich von jener Lehre trennte ward mir
deutlich, ich mußte alſo auch aus dieſer Ge¬
ſellſchaft ſcheiden, und da mir meine Neigung
zu den heiligen Schriften ſo wie zu dem
Stifter und den fruͤheren Bekennern nicht ge¬
raubt werden konnte, ſo bildete ich mir ein
Chriſtenthum zu meinem Privatgebrauch, und
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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 467. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/475>, abgerufen am 23.11.2024.
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