Wie sie mich sonst in dem Garten anrief oder auf dem Felde bey Seite winkte, wenn sie mir etwas Besonderes zu sagen hatte, so that sie auch hier, indem sie mich in eine Fenstertiefe zog; sie that es mit Verlegenheit und ungeschickt, weil sie fühlte, daß es nicht paßte und es doch that. Sie hatte mir das Unwichtigste von der Welt zu sagen, nichts als was ich schon wußte: daß es ihr entsetz¬ lich weh sey, daß sie sich an den Rhein, über den Rhein, ja in die Türkey wünsche. Friedrike hingegen war in dieser Lage höchst merkwürdig. Eigentlich genommen paßte sie auch nicht hinein; aber dieß zeugte für ihren Charakter, daß sie, anstatt sich in diesen Zu¬ stand zu finden, unbewußt den Zustand nach sich modelte. Wie sie auf dem Lande mit der Gesellschaft gebarte, so that sie es auch hier. Jeden Augenblick wußte sie zu beleben. Ohne zu beunruhigen setzte sie alles in Be¬ wegung und beruhigte gerade dadurch die Ge¬ sellschaft, die eigentlich nur von der Langen¬
Wie ſie mich ſonſt in dem Garten anrief oder auf dem Felde bey Seite winkte, wenn ſie mir etwas Beſonderes zu ſagen hatte, ſo that ſie auch hier, indem ſie mich in eine Fenſtertiefe zog; ſie that es mit Verlegenheit und ungeſchickt, weil ſie fuͤhlte, daß es nicht paßte und es doch that. Sie hatte mir das Unwichtigſte von der Welt zu ſagen, nichts als was ich ſchon wußte: daß es ihr entſetz¬ lich weh ſey, daß ſie ſich an den Rhein, uͤber den Rhein, ja in die Tuͤrkey wuͤnſche. Friedrike hingegen war in dieſer Lage hoͤchſt merkwuͤrdig. Eigentlich genommen paßte ſie auch nicht hinein; aber dieß zeugte fuͤr ihren Charakter, daß ſie, anſtatt ſich in dieſen Zu¬ ſtand zu finden, unbewußt den Zuſtand nach ſich modelte. Wie ſie auf dem Lande mit der Geſellſchaft gebarte, ſo that ſie es auch hier. Jeden Augenblick wußte ſie zu beleben. Ohne zu beunruhigen ſetzte ſie alles in Be¬ wegung und beruhigte gerade dadurch die Ge¬ ſellſchaft, die eigentlich nur von der Langen¬
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0060"n="52"/>
Wie ſie mich ſonſt in dem Garten anrief<lb/>
oder auf dem Felde bey Seite winkte, wenn<lb/>ſie mir etwas Beſonderes zu ſagen hatte, ſo<lb/>
that ſie auch hier, indem ſie mich in eine<lb/>
Fenſtertiefe zog; ſie that es mit Verlegenheit<lb/>
und ungeſchickt, weil ſie fuͤhlte, daß es nicht<lb/>
paßte und es doch that. Sie hatte mir das<lb/>
Unwichtigſte von der Welt zu ſagen, nichts<lb/>
als was ich ſchon wußte: daß es ihr entſetz¬<lb/>
lich weh ſey, daß ſie ſich an den Rhein,<lb/>
uͤber den Rhein, ja in die Tuͤrkey wuͤnſche.<lb/>
Friedrike hingegen war in dieſer Lage hoͤchſt<lb/>
merkwuͤrdig. Eigentlich genommen paßte ſie<lb/>
auch nicht hinein; aber dieß zeugte fuͤr ihren<lb/>
Charakter, daß ſie, anſtatt ſich in dieſen Zu¬<lb/>ſtand zu finden, unbewußt den Zuſtand nach<lb/>ſich modelte. Wie ſie auf dem Lande mit<lb/>
der Geſellſchaft gebarte, ſo that ſie es auch<lb/>
hier. Jeden Augenblick wußte ſie zu beleben.<lb/>
Ohne zu beunruhigen ſetzte ſie alles in Be¬<lb/>
wegung und beruhigte gerade dadurch die Ge¬<lb/>ſellſchaft, die eigentlich nur von der Langen¬<lb/></p></div></body></text></TEI>
[52/0060]
Wie ſie mich ſonſt in dem Garten anrief
oder auf dem Felde bey Seite winkte, wenn
ſie mir etwas Beſonderes zu ſagen hatte, ſo
that ſie auch hier, indem ſie mich in eine
Fenſtertiefe zog; ſie that es mit Verlegenheit
und ungeſchickt, weil ſie fuͤhlte, daß es nicht
paßte und es doch that. Sie hatte mir das
Unwichtigſte von der Welt zu ſagen, nichts
als was ich ſchon wußte: daß es ihr entſetz¬
lich weh ſey, daß ſie ſich an den Rhein,
uͤber den Rhein, ja in die Tuͤrkey wuͤnſche.
Friedrike hingegen war in dieſer Lage hoͤchſt
merkwuͤrdig. Eigentlich genommen paßte ſie
auch nicht hinein; aber dieß zeugte fuͤr ihren
Charakter, daß ſie, anſtatt ſich in dieſen Zu¬
ſtand zu finden, unbewußt den Zuſtand nach
ſich modelte. Wie ſie auf dem Lande mit
der Geſellſchaft gebarte, ſo that ſie es auch
hier. Jeden Augenblick wußte ſie zu beleben.
Ohne zu beunruhigen ſetzte ſie alles in Be¬
wegung und beruhigte gerade dadurch die Ge¬
ſellſchaft, die eigentlich nur von der Langen¬
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 52. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/60>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.