wählte zu einer ihrer Hauptunterhaltungen die Literatur, und diese ward dadurch ganz gesellschaftlich und vornehm. Standesperso¬ nen und Literatoren bildeten sich wechselswei¬ se, und mußten sich wechselsweise verbilden: denn alles Vornehme ist eigentlich ablehnend, und ablehnend ward auch die französische Cri¬ tik, verneinend, herunterziehend, misredend. Die höhere Classe bediente sich solcher Urthei¬ le gegen die Schriftsteller, die Schriftsteller, mit etwas weniger Anstand, verfuhren so un¬ ter einander, ja gegen ihre Gönner. Konnte man dem Publicum nicht imponiren, so such¬ te man es zu überraschen, oder durch De¬ muth zu gewinnen; und so entsprang, abge¬ sehn davon was Kirche und Staat im In¬ nersten bewegte, eine solche literarische Gäh¬ rung, daß Voltaire selbst seiner vollen Thä¬ tigkeit, seines ganzen Uebergewichts bedurfte, um sich über dem Strome der allgemeinen Nichtachtung empor zu halten. Schon hieß er laut ein altes eigenwilliges Kind; seine
waͤhlte zu einer ihrer Hauptunterhaltungen die Literatur, und dieſe ward dadurch ganz geſellſchaftlich und vornehm. Standesperſo¬ nen und Literatoren bildeten ſich wechſelswei¬ ſe, und mußten ſich wechſelsweiſe verbilden: denn alles Vornehme iſt eigentlich ablehnend, und ablehnend ward auch die franzoͤſiſche Cri¬ tik, verneinend, herunterziehend, misredend. Die hoͤhere Claſſe bediente ſich ſolcher Urthei¬ le gegen die Schriftſteller, die Schriftſteller, mit etwas weniger Anſtand, verfuhren ſo un¬ ter einander, ja gegen ihre Goͤnner. Konnte man dem Publicum nicht imponiren, ſo ſuch¬ te man es zu uͤberraſchen, oder durch De¬ muth zu gewinnen; und ſo entſprang, abge¬ ſehn davon was Kirche und Staat im In¬ nerſten bewegte, eine ſolche literariſche Gaͤh¬ rung, daß Voltaire ſelbſt ſeiner vollen Thaͤ¬ tigkeit, ſeines ganzen Uebergewichts bedurfte, um ſich uͤber dem Strome der allgemeinen Nichtachtung empor zu halten. Schon hieß er laut ein altes eigenwilliges Kind; ſeine
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waͤhlte zu einer ihrer Hauptunterhaltungen
die Literatur, und dieſe ward dadurch ganz
geſellſchaftlich und vornehm. Standesperſo¬
nen und Literatoren bildeten ſich wechſelswei¬
ſe, und mußten ſich wechſelsweiſe verbilden:
denn alles Vornehme iſt eigentlich ablehnend,
und ablehnend ward auch die franzoͤſiſche Cri¬
tik, verneinend, herunterziehend, misredend.
Die hoͤhere Claſſe bediente ſich ſolcher Urthei¬
le gegen die Schriftſteller, die Schriftſteller,
mit etwas weniger Anſtand, verfuhren ſo un¬
ter einander, ja gegen ihre Goͤnner. Konnte
man dem Publicum nicht imponiren, ſo ſuch¬
te man es zu uͤberraſchen, oder durch De¬
muth zu gewinnen; und ſo entſprang, abge¬
ſehn davon was Kirche und Staat im In¬
nerſten bewegte, eine ſolche literariſche Gaͤh¬
rung, daß Voltaire ſelbſt ſeiner vollen Thaͤ¬
tigkeit, ſeines ganzen Uebergewichts bedurfte,
um ſich uͤber dem Strome der allgemeinen
Nichtachtung empor zu halten. Schon hieß
er laut ein altes eigenwilliges Kind; ſeine
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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 89. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/97>, abgerufen am 21.11.2024.
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