unermüdet fortgesetzten Bemühungen betrach¬ tete man als eitles Bestreben eines abgeleb¬ ten Alters; gewisse Grundsätze auf denen er seine ganze Lebenszeit bestanden, deren Aus¬ breitung er seine Tage gewidmet, wollte man nicht mehr schätzen und ehren; ja seinen Gott, durch dessen Bekenntniß er sich von allem atheistischen Wesen loszusagen fortfuhr, ließ man ihm nicht mehr gelten; und so mußte er selbst, der Altvater und Patriarch, gerade wie sein jüngster Mitbewerber, auf den Au¬ genblick merken, nach neuer Gunst haschen, seinen Freunden zu viel Gutes, seinen Fein¬ den zu viel Uebles erzeigen, und, unter dem Schein eines leidenschaftlich Wahrheitslieben¬ den Strebens, unwahr und falsch handeln. War es denn wohl der Mühe werth, ein so thätiges großes Leben geführt zu haben, wenn es abhängiger enden sollte als es angefangen hatte? Wie unerträglich ein solcher Zustand sey, entging seinem hohen Geiste, seiner zar¬ ten Reizbarkeit nicht; er mochte sich manch¬
unermuͤdet fortgeſetzten Bemuͤhungen betrach¬ tete man als eitles Beſtreben eines abgeleb¬ ten Alters; gewiſſe Grundſaͤtze auf denen er ſeine ganze Lebenszeit beſtanden, deren Aus¬ breitung er ſeine Tage gewidmet, wollte man nicht mehr ſchaͤtzen und ehren; ja ſeinen Gott, durch deſſen Bekenntniß er ſich von allem atheiſtiſchen Weſen loszuſagen fortfuhr, ließ man ihm nicht mehr gelten; und ſo mußte er ſelbſt, der Altvater und Patriarch, gerade wie ſein juͤngſter Mitbewerber, auf den Au¬ genblick merken, nach neuer Gunſt haſchen, ſeinen Freunden zu viel Gutes, ſeinen Fein¬ den zu viel Uebles erzeigen, und, unter dem Schein eines leidenſchaftlich Wahrheitslieben¬ den Strebens, unwahr und falſch handeln. War es denn wohl der Muͤhe werth, ein ſo thaͤtiges großes Leben gefuͤhrt zu haben, wenn es abhaͤngiger enden ſollte als es angefangen hatte? Wie unertraͤglich ein ſolcher Zuſtand ſey, entging ſeinem hohen Geiſte, ſeiner zar¬ ten Reizbarkeit nicht; er mochte ſich manch¬
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unermuͤdet fortgeſetzten Bemuͤhungen betrach¬
tete man als eitles Beſtreben eines abgeleb¬
ten Alters; gewiſſe Grundſaͤtze auf denen er
ſeine ganze Lebenszeit beſtanden, deren Aus¬
breitung er ſeine Tage gewidmet, wollte man
nicht mehr ſchaͤtzen und ehren; ja ſeinen Gott,
durch deſſen Bekenntniß er ſich von allem
atheiſtiſchen Weſen loszuſagen fortfuhr, ließ
man ihm nicht mehr gelten; und ſo mußte
er ſelbſt, der Altvater und Patriarch, gerade
wie ſein juͤngſter Mitbewerber, auf den Au¬
genblick merken, nach neuer Gunſt haſchen,
ſeinen Freunden zu viel Gutes, ſeinen Fein¬
den zu viel Uebles erzeigen, und, unter dem
Schein eines leidenſchaftlich Wahrheitslieben¬
den Strebens, unwahr und falſch handeln.
War es denn wohl der Muͤhe werth, ein ſo
thaͤtiges großes Leben gefuͤhrt zu haben, wenn
es abhaͤngiger enden ſollte als es angefangen
hatte? Wie unertraͤglich ein ſolcher Zuſtand
ſey, entging ſeinem hohen Geiſte, ſeiner zar¬
ten Reizbarkeit nicht; er mochte ſich manch¬
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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 90. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/98>, abgerufen am 21.11.2024.
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