Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814.

Bild:
<< vorherige Seite

mal sprung- und stoßweise Luft, ließ seiner
Laune den Zügel schießen und hieb mit ein
paar Fechterstreichen über die Schnur, wo¬
bey sich meist Freunde und Feinde unwillig
gebärdeten: denn Jederman glaubte ihn zu
übersehn, obschon Niemand es ihm gleich
thun konnte. Ein Publicum, das immer nur
die Urtheile alter Männer hört, wird gar zu
leicht altklug, und nichts ist unzulänglicher
als ein reifes Urtheil, von einem unreifen
Geiste aufgenommen.

Uns Jünglingen, denen, bey einer deut¬
schen Natur und Wahrheitsliebe, als beste
Führerinn im Leben und Lernen, die Redlich¬
keit gegen uns selbst und andere immer vor
Augen schwebte, ward die parteyische Unred¬
lichkeit Voltaire's und die Verbildung so vie¬
ler würdigen Gegenstände immer mehr zum
Verdruß, und wir bestärkten uns täglich in
der Abneigung gegen ihn. Er hatte die Re¬
ligion und die heiligen Bücher worauf sie ge¬

mal ſprung- und ſtoßweiſe Luft, ließ ſeiner
Laune den Zuͤgel ſchießen und hieb mit ein
paar Fechterſtreichen uͤber die Schnur, wo¬
bey ſich meiſt Freunde und Feinde unwillig
gebaͤrdeten: denn Jederman glaubte ihn zu
uͤberſehn, obſchon Niemand es ihm gleich
thun konnte. Ein Publicum, das immer nur
die Urtheile alter Maͤnner hoͤrt, wird gar zu
leicht altklug, und nichts iſt unzulaͤnglicher
als ein reifes Urtheil, von einem unreifen
Geiſte aufgenommen.

Uns Juͤnglingen, denen, bey einer deut¬
ſchen Natur und Wahrheitsliebe, als beſte
Fuͤhrerinn im Leben und Lernen, die Redlich¬
keit gegen uns ſelbſt und andere immer vor
Augen ſchwebte, ward die parteyiſche Unred¬
lichkeit Voltaire's und die Verbildung ſo vie¬
ler wuͤrdigen Gegenſtaͤnde immer mehr zum
Verdruß, und wir beſtaͤrkten uns taͤglich in
der Abneigung gegen ihn. Er hatte die Re¬
ligion und die heiligen Buͤcher worauf ſie ge¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0099" n="91"/>
mal &#x017F;prung- und &#x017F;toßwei&#x017F;e Luft, ließ &#x017F;einer<lb/>
Laune den Zu&#x0364;gel &#x017F;chießen und hieb mit ein<lb/>
paar Fechter&#x017F;treichen u&#x0364;ber die Schnur, wo¬<lb/>
bey &#x017F;ich mei&#x017F;t Freunde und Feinde unwillig<lb/>
geba&#x0364;rdeten: denn Jederman glaubte ihn zu<lb/>
u&#x0364;ber&#x017F;ehn, ob&#x017F;chon Niemand es ihm gleich<lb/>
thun konnte. Ein Publicum, das immer nur<lb/>
die Urtheile alter Ma&#x0364;nner ho&#x0364;rt, wird gar zu<lb/>
leicht altklug, und nichts i&#x017F;t unzula&#x0364;nglicher<lb/>
als ein reifes Urtheil, von einem unreifen<lb/>
Gei&#x017F;te aufgenommen.</p><lb/>
        <p>Uns Ju&#x0364;nglingen, denen, bey einer deut¬<lb/>
&#x017F;chen Natur und Wahrheitsliebe, als be&#x017F;te<lb/>
Fu&#x0364;hrerinn im Leben und Lernen, die Redlich¬<lb/>
keit gegen uns &#x017F;elb&#x017F;t und andere immer vor<lb/>
Augen &#x017F;chwebte, ward die parteyi&#x017F;che Unred¬<lb/>
lichkeit Voltaire's und die Verbildung &#x017F;o vie¬<lb/>
ler wu&#x0364;rdigen Gegen&#x017F;ta&#x0364;nde immer mehr zum<lb/>
Verdruß, und wir be&#x017F;ta&#x0364;rkten uns ta&#x0364;glich in<lb/>
der Abneigung gegen ihn. Er hatte die Re¬<lb/>
ligion und die heiligen Bu&#x0364;cher worauf &#x017F;ie ge¬<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[91/0099] mal ſprung- und ſtoßweiſe Luft, ließ ſeiner Laune den Zuͤgel ſchießen und hieb mit ein paar Fechterſtreichen uͤber die Schnur, wo¬ bey ſich meiſt Freunde und Feinde unwillig gebaͤrdeten: denn Jederman glaubte ihn zu uͤberſehn, obſchon Niemand es ihm gleich thun konnte. Ein Publicum, das immer nur die Urtheile alter Maͤnner hoͤrt, wird gar zu leicht altklug, und nichts iſt unzulaͤnglicher als ein reifes Urtheil, von einem unreifen Geiſte aufgenommen. Uns Juͤnglingen, denen, bey einer deut¬ ſchen Natur und Wahrheitsliebe, als beſte Fuͤhrerinn im Leben und Lernen, die Redlich¬ keit gegen uns ſelbſt und andere immer vor Augen ſchwebte, ward die parteyiſche Unred¬ lichkeit Voltaire's und die Verbildung ſo vie¬ ler wuͤrdigen Gegenſtaͤnde immer mehr zum Verdruß, und wir beſtaͤrkten uns taͤglich in der Abneigung gegen ihn. Er hatte die Re¬ ligion und die heiligen Buͤcher worauf ſie ge¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/99
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 91. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/99>, abgerufen am 21.11.2024.