wünschte zu spät kommt, und daß alles er¬ reichte und erlangte auf ihr Herz nicht die Wirkung thut, welche die Begierde uns in der Ferne ahnden läßt. Gleichsam wie einen Gott hat das Schicksal den Dichter über dieses alles hinüber gesetzt. Er sieht das Gewirre der Leidenschaften, Familien und Reiche sich zwecklos bewegen, er sieht die unauflöslichen Räzel der Mißverständnisse, denen oft nur ein einsylbiges Wort zur Ent¬ wicklung fehlt, unsäglich verderbliche Ver¬ wirrungen verursachen. Er fühlt das Trau¬ rige und das Freudige jedes Menschenschick¬ sals mit. Wenn der Weltmensch in einer abzehrenden Melancholie über großen Ver¬ lust seine Tage hinschleicht, oder in ausge¬ lassener Freude seinem Schicksale entgegen geht, so schreitet die empfängliche leichtbe¬ wegliche Seele des Dichters, wie die wan¬ delnde Sonne, von Nacht zu Tag fort, und
wünſchte zu ſpät kommt, und daß alles er¬ reichte und erlangte auf ihr Herz nicht die Wirkung thut, welche die Begierde uns in der Ferne ahnden läßt. Gleichſam wie einen Gott hat das Schickſal den Dichter über dieſes alles hinüber geſetzt. Er ſieht das Gewirre der Leidenſchaften, Familien und Reiche ſich zwecklos bewegen, er ſieht die unauflöslichen Räzel der Mißverſtändniſſe, denen oft nur ein einſylbiges Wort zur Ent¬ wicklung fehlt, unſäglich verderbliche Ver¬ wirrungen verurſachen. Er fühlt das Trau¬ rige und das Freudige jedes Menſchenſchick¬ ſals mit. Wenn der Weltmenſch in einer abzehrenden Melancholie über großen Ver¬ luſt ſeine Tage hinſchleicht, oder in ausge¬ laſſener Freude ſeinem Schickſale entgegen geht, ſo ſchreitet die empfängliche leichtbe¬ wegliche Seele des Dichters, wie die wan¬ delnde Sonne, von Nacht zu Tag fort, und
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wünſchte zu ſpät kommt, und daß alles er¬
reichte und erlangte auf ihr Herz nicht die
Wirkung thut, welche die Begierde uns in
der Ferne ahnden läßt. Gleichſam wie einen
Gott hat das Schickſal den Dichter über
dieſes alles hinüber geſetzt. Er ſieht das
Gewirre der Leidenſchaften, Familien und
Reiche ſich zwecklos bewegen, er ſieht die
unauflöslichen Räzel der Mißverſtändniſſe,
denen oft nur ein einſylbiges Wort zur Ent¬
wicklung fehlt, unſäglich verderbliche Ver¬
wirrungen verurſachen. Er fühlt das Trau¬
rige und das Freudige jedes Menſchenſchick¬
ſals mit. Wenn der Weltmenſch in einer
abzehrenden Melancholie über großen Ver¬
luſt ſeine Tage hinſchleicht, oder in ausge¬
laſſener Freude ſeinem Schickſale entgegen
geht, ſo ſchreitet die empfängliche leichtbe¬
wegliche Seele des Dichters, wie die wan¬
delnde Sonne, von Nacht zu Tag fort, und
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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 1. Berlin, 1795, S. 203. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre01_1795/211>, abgerufen am 21.11.2024.
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