mit leisen Übergängen stimmt seine Harfe zu Freude und Leid. Eingeboren auf den Grund seines Herzens wächst die schöne Blu¬ me der Weisheit hervor, und wenn die an¬ dern wachend träumen, und von ungeheuren Vorstellungen aus allen ihren Sinnen ge¬ ängstiget werden, so lebt er den Traum des Lebens als ein wachender, und das seltenste, was geschieht, ist ihm zugleich Vergangenheit und Zukunft. Und so ist der Dichter zugleich Lehrer, Wahrsager, Freund der Götter und der Menschen. Wie! willst du, daß er zu einem kümmerlichen Gewerbe herunter steige, er, der wie ein Vogel gebaut ist, um die Welt zu überschweben, auf hohen Gipfeln zu nisten, und seine Nahrung von Knospen und Früchten, einen Zweig mit dem andern leicht verwechselnd, zu nehmen, der sollte zu¬ gleich wie der Stier am Pfluge ziehen, wie der Hund sich auf eine Fährte gewöhnen,
mit leiſen Übergängen ſtimmt ſeine Harfe zu Freude und Leid. Eingeboren auf den Grund ſeines Herzens wächſt die ſchöne Blu¬ me der Weisheit hervor, und wenn die an¬ dern wachend träumen, und von ungeheuren Vorſtellungen aus allen ihren Sinnen ge¬ ängſtiget werden, ſo lebt er den Traum des Lebens als ein wachender, und das ſeltenſte, was geſchieht, iſt ihm zugleich Vergangenheit und Zukunft. Und ſo iſt der Dichter zugleich Lehrer, Wahrſager, Freund der Götter und der Menſchen. Wie! willſt du, daß er zu einem kümmerlichen Gewerbe herunter ſteige, er, der wie ein Vogel gebaut iſt, um die Welt zu überſchweben, auf hohen Gipfeln zu niſten, und ſeine Nahrung von Knospen und Früchten, einen Zweig mit dem andern leicht verwechſelnd, zu nehmen, der ſollte zu¬ gleich wie der Stier am Pfluge ziehen, wie der Hund ſich auf eine Fährte gewöhnen,
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Freude und Leid. Eingeboren auf den
Grund ſeines Herzens wächſt die ſchöne Blu¬
me der Weisheit hervor, und wenn die an¬
dern wachend träumen, und von ungeheuren
Vorſtellungen aus allen ihren Sinnen ge¬
ängſtiget werden, ſo lebt er den Traum des
Lebens als ein wachender, und das ſeltenſte,
was geſchieht, iſt ihm zugleich Vergangenheit
und Zukunft. Und ſo iſt der Dichter zugleich
Lehrer, Wahrſager, Freund der Götter und
der Menſchen. Wie! willſt du, daß er zu
einem kümmerlichen Gewerbe herunter ſteige,
er, der wie ein Vogel gebaut iſt, um die
Welt zu überſchweben, auf hohen Gipfeln
zu niſten, und ſeine Nahrung von Knospen
und Früchten, einen Zweig mit dem andern
leicht verwechſelnd, zu nehmen, der ſollte zu¬
gleich wie der Stier am Pfluge ziehen, wie
der Hund ſich auf eine Fährte gewöhnen,
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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 1. Berlin, 1795, S. 204. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre01_1795/212>, abgerufen am 21.11.2024.
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