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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 1. Berlin, 1795.

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Mit nichten, versetzte Philine. Ihr sollt
Euch keinesweges beklagen. Sie nahm
ihren Kranz vom Haupte, und setzte ihn
Laertes auf.

Wären wir Nebenbuhler, sagte dieser, so
würden wir sehr heftig streiten können, wel¬
chen von beiden du am meisten begünstigst.

Da wär't ihr rechte Thoren, versetzte sie,
indem sie sich zu ihm hinüberbog, und ihm
den Mund zum Kuß reichte; sich aber so¬
gleich umwendete, ihren Arm um Wilhelmen
schlang, und einen lebhaften Kuß auf seine
Lippen drückte. Welcher schmeckt am besten?
fragte sie neckisch.

Wunderlich! rief Laertes. Es scheint als
wenn so etwas niemals nach Wermuth schmek¬
ken könne.

So wenig, sagte Philine, als irgend eine
Gabe, die jemand ohne Neid und Eigensinn
genießt. Nun hätte ich, rief sie aus, noch

Mit nichten, verſetzte Philine. Ihr ſollt
Euch keinesweges beklagen. Sie nahm
ihren Kranz vom Haupte, und ſetzte ihn
Laertes auf.

Wären wir Nebenbuhler, ſagte dieſer, ſo
würden wir ſehr heftig ſtreiten können, wel¬
chen von beiden du am meiſten begünſtigſt.

Da wär’t ihr rechte Thoren, verſetzte ſie,
indem ſie ſich zu ihm hinüberbog, und ihm
den Mund zum Kuß reichte; ſich aber ſo¬
gleich umwendete, ihren Arm um Wilhelmen
ſchlang, und einen lebhaften Kuß auf ſeine
Lippen drückte. Welcher ſchmeckt am beſten?
fragte ſie neckiſch.

Wunderlich! rief Laertes. Es ſcheint als
wenn ſo etwas niemals nach Wermuth ſchmek¬
ken könne.

So wenig, ſagte Philine, als irgend eine
Gabe, die jemand ohne Neid und Eigenſinn
genießt. Nun hätte ich, rief ſie aus, noch

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[254/0262] Mit nichten, verſetzte Philine. Ihr ſollt Euch keinesweges beklagen. Sie nahm ihren Kranz vom Haupte, und ſetzte ihn Laertes auf. Wären wir Nebenbuhler, ſagte dieſer, ſo würden wir ſehr heftig ſtreiten können, wel¬ chen von beiden du am meiſten begünſtigſt. Da wär’t ihr rechte Thoren, verſetzte ſie, indem ſie ſich zu ihm hinüberbog, und ihm den Mund zum Kuß reichte; ſich aber ſo¬ gleich umwendete, ihren Arm um Wilhelmen ſchlang, und einen lebhaften Kuß auf ſeine Lippen drückte. Welcher ſchmeckt am beſten? fragte ſie neckiſch. Wunderlich! rief Laertes. Es ſcheint als wenn ſo etwas niemals nach Wermuth ſchmek¬ ken könne. So wenig, ſagte Philine, als irgend eine Gabe, die jemand ohne Neid und Eigenſinn genießt. Nun hätte ich, rief ſie aus, noch

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 1. Berlin, 1795, S. 254. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre01_1795/262>, abgerufen am 22.11.2024.