sie aufhob und fest umarmte, mein Kind, was ist dir? -- Die Zuckung dauerte fort, die vom Herzen sich den schlotternden Glie¬ dern mittheilte; sie hing nur in seinen Ar¬ men. Er schloß sie an sein Herz, und be¬ netzte sie mit seinen Thränen. Auf einmal schien sie wieder angespannt, wie eins, das den höchsten körperlichen Schmerz erträgt; und bald mit einer neuen Heftigkeit wurden alle ihre Glieder wieder lebendig, und sie warf sich ihm, wie ein Ressort, das zuschlägt, um den Hals, indem in ihrem Innersten wie ein gewaltiger Riß geschah, und in dem Au¬ genblicke floß ein Strom von Thränen aus ihren geschlossenen Augen in seinen Busen. Er hielt sie fest. Sie weinte, und keine Zunge spricht die Gewalt dieser Thränen aus. Ihre langen Haare waren aufgegan¬ gen, und hingen von der Weinenden nieder, und ihr ganzes Wesen schien in einen Bach von Thränen unaufhaltsam dahin zu schmel¬
ſie aufhob und feſt umarmte, mein Kind, was iſt dir? — Die Zuckung dauerte fort, die vom Herzen ſich den ſchlotternden Glie¬ dern mittheilte; ſie hing nur in ſeinen Ar¬ men. Er ſchloß ſie an ſein Herz, und be¬ netzte ſie mit ſeinen Thränen. Auf einmal ſchien ſie wieder angeſpannt, wie eins, das den höchſten körperlichen Schmerz erträgt; und bald mit einer neuen Heftigkeit wurden alle ihre Glieder wieder lebendig, und ſie warf ſich ihm, wie ein Reſſort, das zuſchlägt, um den Hals, indem in ihrem Innerſten wie ein gewaltiger Riß geſchah, und in dem Au¬ genblicke floß ein Strom von Thränen aus ihren geſchloſſenen Augen in ſeinen Buſen. Er hielt ſie feſt. Sie weinte, und keine Zunge ſpricht die Gewalt dieſer Thränen aus. Ihre langen Haare waren aufgegan¬ gen, und hingen von der Weinenden nieder, und ihr ganzes Weſen ſchien in einen Bach von Thränen unaufhaltſam dahin zu ſchmel¬
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0371"n="363"/>ſie aufhob und feſt umarmte, mein Kind,<lb/>
was iſt dir? — Die Zuckung dauerte fort,<lb/>
die vom Herzen ſich den ſchlotternden Glie¬<lb/>
dern mittheilte; ſie hing nur in ſeinen Ar¬<lb/>
men. Er ſchloß ſie an ſein Herz, und be¬<lb/>
netzte ſie mit ſeinen Thränen. Auf einmal<lb/>ſchien ſie wieder angeſpannt, wie eins, das<lb/>
den höchſten körperlichen Schmerz erträgt;<lb/>
und bald mit einer neuen Heftigkeit wurden<lb/>
alle ihre Glieder wieder lebendig, und ſie<lb/>
warf ſich ihm, wie ein Reſſort, das zuſchlägt,<lb/>
um den Hals, indem in ihrem Innerſten wie<lb/>
ein gewaltiger Riß geſchah, und in dem Au¬<lb/>
genblicke floß ein Strom von Thränen aus<lb/>
ihren geſchloſſenen Augen in ſeinen Buſen.<lb/>
Er hielt ſie feſt. Sie weinte, und keine<lb/>
Zunge ſpricht die Gewalt dieſer Thränen<lb/>
aus. Ihre langen Haare waren aufgegan¬<lb/>
gen, und hingen von der Weinenden nieder,<lb/>
und ihr ganzes Weſen ſchien in einen Bach<lb/>
von Thränen unaufhaltſam dahin zu ſchmel¬<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[363/0371]
ſie aufhob und feſt umarmte, mein Kind,
was iſt dir? — Die Zuckung dauerte fort,
die vom Herzen ſich den ſchlotternden Glie¬
dern mittheilte; ſie hing nur in ſeinen Ar¬
men. Er ſchloß ſie an ſein Herz, und be¬
netzte ſie mit ſeinen Thränen. Auf einmal
ſchien ſie wieder angeſpannt, wie eins, das
den höchſten körperlichen Schmerz erträgt;
und bald mit einer neuen Heftigkeit wurden
alle ihre Glieder wieder lebendig, und ſie
warf ſich ihm, wie ein Reſſort, das zuſchlägt,
um den Hals, indem in ihrem Innerſten wie
ein gewaltiger Riß geſchah, und in dem Au¬
genblicke floß ein Strom von Thränen aus
ihren geſchloſſenen Augen in ſeinen Buſen.
Er hielt ſie feſt. Sie weinte, und keine
Zunge ſpricht die Gewalt dieſer Thränen
aus. Ihre langen Haare waren aufgegan¬
gen, und hingen von der Weinenden nieder,
und ihr ganzes Weſen ſchien in einen Bach
von Thränen unaufhaltſam dahin zu ſchmel¬
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 1. Berlin, 1795, S. 363. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre01_1795/371>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.