Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1795.

Bild:
<< vorherige Seite

Wunder, und wie viele Mittel hat er, die
einmal erworbenen Geister fest zu halten.
Uns kommt alles seltner, wird alles schwerer,
und wie natürlich ist es, daß wir auf das,
was wir erwerben und leisten, einen größern
Werth legen. Welche rührende Beyspiele
von treuen Dienern, die sich für ihre Herren
aufopferten! Wie schön hat uns Shakespear
solche geschildert! Die Treue ist, in diesem
Falle, ein Bestreben einer edlen Seele, einem
Größern gleich zu werden. Durch fort¬
dauernde Anhänglichkeit und Liebe wird der
Diener seinem Herrn gleich, der ihn sonst
nur als einen bezahlten Sklaven anzusehen
berechtigt ist. Ja, diese Tugenden sind nur
für den geringen Stand; er kann sie nicht
entbehren, und sie kleiden ihn schön. Wer
sich leicht loskaufen kann, wird so leicht ver¬
sucht, sich auch der Erkenntlichkeit zu über¬
heben. Ja, in diesem Sinne glaube ich be¬

Wunder, und wie viele Mittel hat er, die
einmal erworbenen Geiſter feſt zu halten.
Uns kommt alles ſeltner, wird alles ſchwerer,
und wie natürlich iſt es, daß wir auf das,
was wir erwerben und leiſten, einen größern
Werth legen. Welche rührende Beyſpiele
von treuen Dienern, die ſich für ihre Herren
aufopferten! Wie ſchön hat uns Shakeſpear
ſolche geſchildert! Die Treue iſt, in dieſem
Falle, ein Beſtreben einer edlen Seele, einem
Größern gleich zu werden. Durch fort¬
dauernde Anhänglichkeit und Liebe wird der
Diener ſeinem Herrn gleich, der ihn ſonſt
nur als einen bezahlten Sklaven anzuſehen
berechtigt iſt. Ja, dieſe Tugenden ſind nur
für den geringen Stand; er kann ſie nicht
entbehren, und ſie kleiden ihn ſchön. Wer
ſich leicht loskaufen kann, wird ſo leicht ver¬
ſucht, ſich auch der Erkenntlichkeit zu über¬
heben. Ja, in dieſem Sinne glaube ich be¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0197" n="189"/>
Wunder, und wie viele Mittel hat er, die<lb/>
einmal erworbenen Gei&#x017F;ter fe&#x017F;t zu halten.<lb/>
Uns kommt alles &#x017F;eltner, wird alles &#x017F;chwerer,<lb/>
und wie natürlich i&#x017F;t es, daß wir auf das,<lb/>
was wir erwerben und lei&#x017F;ten, einen größern<lb/>
Werth legen. Welche rührende Bey&#x017F;piele<lb/>
von treuen Dienern, die &#x017F;ich für ihre Herren<lb/>
aufopferten! Wie &#x017F;chön hat uns Shake&#x017F;pear<lb/>
&#x017F;olche ge&#x017F;childert! Die Treue i&#x017F;t, in die&#x017F;em<lb/>
Falle, ein Be&#x017F;treben einer edlen Seele, einem<lb/>
Größern gleich zu werden. Durch fort¬<lb/>
dauernde Anhänglichkeit und Liebe wird der<lb/>
Diener &#x017F;einem Herrn gleich, der ihn &#x017F;on&#x017F;t<lb/>
nur als einen bezahlten Sklaven anzu&#x017F;ehen<lb/>
berechtigt i&#x017F;t. Ja, die&#x017F;e Tugenden &#x017F;ind nur<lb/>
für den geringen Stand; er kann &#x017F;ie nicht<lb/>
entbehren, und &#x017F;ie kleiden ihn &#x017F;chön. Wer<lb/>
&#x017F;ich leicht loskaufen kann, wird &#x017F;o leicht ver¬<lb/>
&#x017F;ucht, &#x017F;ich auch der Erkenntlichkeit zu über¬<lb/>
heben. Ja, in die&#x017F;em Sinne glaube ich be¬<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[189/0197] Wunder, und wie viele Mittel hat er, die einmal erworbenen Geiſter feſt zu halten. Uns kommt alles ſeltner, wird alles ſchwerer, und wie natürlich iſt es, daß wir auf das, was wir erwerben und leiſten, einen größern Werth legen. Welche rührende Beyſpiele von treuen Dienern, die ſich für ihre Herren aufopferten! Wie ſchön hat uns Shakeſpear ſolche geſchildert! Die Treue iſt, in dieſem Falle, ein Beſtreben einer edlen Seele, einem Größern gleich zu werden. Durch fort¬ dauernde Anhänglichkeit und Liebe wird der Diener ſeinem Herrn gleich, der ihn ſonſt nur als einen bezahlten Sklaven anzuſehen berechtigt iſt. Ja, dieſe Tugenden ſind nur für den geringen Stand; er kann ſie nicht entbehren, und ſie kleiden ihn ſchön. Wer ſich leicht loskaufen kann, wird ſo leicht ver¬ ſucht, ſich auch der Erkenntlichkeit zu über¬ heben. Ja, in dieſem Sinne glaube ich be¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre02_1795
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre02_1795/197
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1795, S. 189. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre02_1795/197>, abgerufen am 21.11.2024.