Wunder, und wie viele Mittel hat er, die einmal erworbenen Geister fest zu halten. Uns kommt alles seltner, wird alles schwerer, und wie natürlich ist es, daß wir auf das, was wir erwerben und leisten, einen größern Werth legen. Welche rührende Beyspiele von treuen Dienern, die sich für ihre Herren aufopferten! Wie schön hat uns Shakespear solche geschildert! Die Treue ist, in diesem Falle, ein Bestreben einer edlen Seele, einem Größern gleich zu werden. Durch fort¬ dauernde Anhänglichkeit und Liebe wird der Diener seinem Herrn gleich, der ihn sonst nur als einen bezahlten Sklaven anzusehen berechtigt ist. Ja, diese Tugenden sind nur für den geringen Stand; er kann sie nicht entbehren, und sie kleiden ihn schön. Wer sich leicht loskaufen kann, wird so leicht ver¬ sucht, sich auch der Erkenntlichkeit zu über¬ heben. Ja, in diesem Sinne glaube ich be¬
Wunder, und wie viele Mittel hat er, die einmal erworbenen Geiſter feſt zu halten. Uns kommt alles ſeltner, wird alles ſchwerer, und wie natürlich iſt es, daß wir auf das, was wir erwerben und leiſten, einen größern Werth legen. Welche rührende Beyſpiele von treuen Dienern, die ſich für ihre Herren aufopferten! Wie ſchön hat uns Shakeſpear ſolche geſchildert! Die Treue iſt, in dieſem Falle, ein Beſtreben einer edlen Seele, einem Größern gleich zu werden. Durch fort¬ dauernde Anhänglichkeit und Liebe wird der Diener ſeinem Herrn gleich, der ihn ſonſt nur als einen bezahlten Sklaven anzuſehen berechtigt iſt. Ja, dieſe Tugenden ſind nur für den geringen Stand; er kann ſie nicht entbehren, und ſie kleiden ihn ſchön. Wer ſich leicht loskaufen kann, wird ſo leicht ver¬ ſucht, ſich auch der Erkenntlichkeit zu über¬ heben. Ja, in dieſem Sinne glaube ich be¬
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0197"n="189"/>
Wunder, und wie viele Mittel hat er, die<lb/>
einmal erworbenen Geiſter feſt zu halten.<lb/>
Uns kommt alles ſeltner, wird alles ſchwerer,<lb/>
und wie natürlich iſt es, daß wir auf das,<lb/>
was wir erwerben und leiſten, einen größern<lb/>
Werth legen. Welche rührende Beyſpiele<lb/>
von treuen Dienern, die ſich für ihre Herren<lb/>
aufopferten! Wie ſchön hat uns Shakeſpear<lb/>ſolche geſchildert! Die Treue iſt, in dieſem<lb/>
Falle, ein Beſtreben einer edlen Seele, einem<lb/>
Größern gleich zu werden. Durch fort¬<lb/>
dauernde Anhänglichkeit und Liebe wird der<lb/>
Diener ſeinem Herrn gleich, der ihn ſonſt<lb/>
nur als einen bezahlten Sklaven anzuſehen<lb/>
berechtigt iſt. Ja, dieſe Tugenden ſind nur<lb/>
für den geringen Stand; er kann ſie nicht<lb/>
entbehren, und ſie kleiden ihn ſchön. Wer<lb/>ſich leicht loskaufen kann, wird ſo leicht ver¬<lb/>ſucht, ſich auch der Erkenntlichkeit zu über¬<lb/>
heben. Ja, in dieſem Sinne glaube ich be¬<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[189/0197]
Wunder, und wie viele Mittel hat er, die
einmal erworbenen Geiſter feſt zu halten.
Uns kommt alles ſeltner, wird alles ſchwerer,
und wie natürlich iſt es, daß wir auf das,
was wir erwerben und leiſten, einen größern
Werth legen. Welche rührende Beyſpiele
von treuen Dienern, die ſich für ihre Herren
aufopferten! Wie ſchön hat uns Shakeſpear
ſolche geſchildert! Die Treue iſt, in dieſem
Falle, ein Beſtreben einer edlen Seele, einem
Größern gleich zu werden. Durch fort¬
dauernde Anhänglichkeit und Liebe wird der
Diener ſeinem Herrn gleich, der ihn ſonſt
nur als einen bezahlten Sklaven anzuſehen
berechtigt iſt. Ja, dieſe Tugenden ſind nur
für den geringen Stand; er kann ſie nicht
entbehren, und ſie kleiden ihn ſchön. Wer
ſich leicht loskaufen kann, wird ſo leicht ver¬
ſucht, ſich auch der Erkenntlichkeit zu über¬
heben. Ja, in dieſem Sinne glaube ich be¬
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1795, S. 189. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre02_1795/197>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.