Wilhelm hatte nicht bemerkt, mit wel¬ chem Ausdruck Aurelie die letzten Worte aus¬ sprach. Nur auf das Kunstwerk, dessen Zu¬ sammenhang und Vollkommenheit gerichtet, ahndete er nicht, daß seine Freundin eine ganz andere Wirkung empfand; nicht, daß ein eigner tiefer Schmerz durch diese drama¬ tischen Schattenbilder in ihr lebhaft erregt ward.
Noch immer hatte Aurelie ihr Haupt von ihren Armen unterstützt, und ihre Augen, die sich mit Thränen füllten, gen Himmel ge¬ wendet. Endlich hielt sie nicht länger ihren verborgnen Schmerz zurück; sie faßte des Freundes beide Hände, und rief, indem er erstaunt vor ihr stand: verzeihen Sie, ver¬ zeihen Sie einem geängstigten Herzen! die Gesellschaft schnürt und preßt mich zusam¬ men, vor meinem unbarmherzigen Bruder muß ich mich zu verbergen suchen; nun hat
Wilhelm hatte nicht bemerkt, mit wel¬ chem Ausdruck Aurelie die letzten Worte aus¬ ſprach. Nur auf das Kunſtwerk, deſſen Zu¬ ſammenhang und Vollkommenheit gerichtet, ahndete er nicht, daß ſeine Freundin eine ganz andere Wirkung empfand; nicht, daß ein eigner tiefer Schmerz durch dieſe drama¬ tiſchen Schattenbilder in ihr lebhaft erregt ward.
Noch immer hatte Aurelie ihr Haupt von ihren Armen unterſtützt, und ihre Augen, die ſich mit Thränen füllten, gen Himmel ge¬ wendet. Endlich hielt ſie nicht länger ihren verborgnen Schmerz zurück; ſie faßte des Freundes beide Hände, und rief, indem er erſtaunt vor ihr ſtand: verzeihen Sie, ver¬ zeihen Sie einem geängſtigten Herzen! die Geſellſchaft ſchnürt und preßt mich zuſam¬ men, vor meinem unbarmherzigen Bruder muß ich mich zu verbergen ſuchen; nun hat
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Wilhelm hatte nicht bemerkt, mit wel¬
chem Ausdruck Aurelie die letzten Worte aus¬
ſprach. Nur auf das Kunſtwerk, deſſen Zu¬
ſammenhang und Vollkommenheit gerichtet,
ahndete er nicht, daß ſeine Freundin eine
ganz andere Wirkung empfand; nicht, daß
ein eigner tiefer Schmerz durch dieſe drama¬
tiſchen Schattenbilder in ihr lebhaft erregt
ward.
Noch immer hatte Aurelie ihr Haupt von
ihren Armen unterſtützt, und ihre Augen, die
ſich mit Thränen füllten, gen Himmel ge¬
wendet. Endlich hielt ſie nicht länger ihren
verborgnen Schmerz zurück; ſie faßte des
Freundes beide Hände, und rief, indem er
erſtaunt vor ihr ſtand: verzeihen Sie, ver¬
zeihen Sie einem geängſtigten Herzen! die
Geſellſchaft ſchnürt und preßt mich zuſam¬
men, vor meinem unbarmherzigen Bruder
muß ich mich zu verbergen ſuchen; nun hat
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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1795, S. 284. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre02_1795/293>, abgerufen am 22.11.2024.
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