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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1795.

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Bey edlen Gesinnungen, wie die Ihrigen
sind, versetzte der Freund, können Sie nicht
ganz unglücklich seyn.

Und wissen Sie, wem ich meine Gesin¬
nungen schuldig bin? fragte Aurelie; der al¬
lerschlechtesten Erziehung, durch die jemals
ein Mädchen hätte verderbt werden sollen,
dem schlimmsten Beyspiele, um Sinne und
Neigung zu verführen.

Nach dem frühzeitigen Tode meiner Mut¬
ter bracht' ich die schönsten Jahre der Ent¬
wicklung bey einer Tante zu, die sich zum
Gesetz machte, die Gesetze der Ehrbarkeit zu
verachten. Blindlings überließ sie sich einer
jeden Neigung, sie mochte über den Gegen¬
stand gebieten oder sein Sklav seyn, wenn
sie nur im wilden Genuß ihrer selbst verges¬
sen konnte.

Was mußten wir Kinder mit dem reinen
und deutlichen Blick der Unschuld uns für

Bey edlen Geſinnungen, wie die Ihrigen
ſind, verſetzte der Freund, können Sie nicht
ganz unglücklich ſeyn.

Und wiſſen Sie, wem ich meine Geſin¬
nungen ſchuldig bin? fragte Aurelie; der al¬
lerſchlechteſten Erziehung, durch die jemals
ein Mädchen hätte verderbt werden ſollen,
dem ſchlimmſten Beyſpiele, um Sinne und
Neigung zu verführen.

Nach dem frühzeitigen Tode meiner Mut¬
ter bracht’ ich die ſchönſten Jahre der Ent¬
wicklung bey einer Tante zu, die ſich zum
Geſetz machte, die Geſetze der Ehrbarkeit zu
verachten. Blindlings überließ ſie ſich einer
jeden Neigung, ſie mochte über den Gegen¬
ſtand gebieten oder ſein Sklav ſeyn, wenn
ſie nur im wilden Genuß ihrer ſelbſt vergeſ¬
ſen konnte.

Was mußten wir Kinder mit dem reinen
und deutlichen Blick der Unſchuld uns für

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[297/0306] Bey edlen Geſinnungen, wie die Ihrigen ſind, verſetzte der Freund, können Sie nicht ganz unglücklich ſeyn. Und wiſſen Sie, wem ich meine Geſin¬ nungen ſchuldig bin? fragte Aurelie; der al¬ lerſchlechteſten Erziehung, durch die jemals ein Mädchen hätte verderbt werden ſollen, dem ſchlimmſten Beyſpiele, um Sinne und Neigung zu verführen. Nach dem frühzeitigen Tode meiner Mut¬ ter bracht’ ich die ſchönſten Jahre der Ent¬ wicklung bey einer Tante zu, die ſich zum Geſetz machte, die Geſetze der Ehrbarkeit zu verachten. Blindlings überließ ſie ſich einer jeden Neigung, ſie mochte über den Gegen¬ ſtand gebieten oder ſein Sklav ſeyn, wenn ſie nur im wilden Genuß ihrer ſelbſt vergeſ¬ ſen konnte. Was mußten wir Kinder mit dem reinen und deutlichen Blick der Unſchuld uns für

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1795, S. 297. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre02_1795/306>, abgerufen am 11.06.2024.