Sie mich nicht verkennen. Ich glaubte eini¬ ge gelassene Augenblicke zu haben, darum ließ ich Sie rufen; Sie sind nun da, und ich habe meinen Faden verloren.
Ein verlaßnes Geschöpf mehr in der Welt! werden Sie sagen. Sie sind ein Mann, und denken: wie gebährdet sie sich bey einem nothwendigen Übel, das gewisser als der Tod über einem Weibe schwebt, bey der Untreue eines Mannes, die Thörin! -- O mein Freund, wäre mein Schicksal gemein, ich wollte gern gemeines Übel ertragen, aber es ist so außerordentlich, warum kann ichs Ihnen nicht im Spiegel zeigen, warum nicht jemand auftragen, es Ihnen zu erzählen? O wäre ich verführt, überrascht und dann ver¬ lassen, dann würde in der Verzweiflung noch Trost seyn; aber ich bin weit schlimmer dar¬ an, ich habe mich selbst hintergangen, mich selbst wider Wissen betrogen, das ists, was ich mir niemals verzeihen kann.
Sie mich nicht verkennen. Ich glaubte eini¬ ge gelaſſene Augenblicke zu haben, darum ließ ich Sie rufen; Sie ſind nun da, und ich habe meinen Faden verloren.
Ein verlaßnes Geſchöpf mehr in der Welt! werden Sie ſagen. Sie ſind ein Mann, und denken: wie gebährdet ſie ſich bey einem nothwendigen Übel, das gewiſſer als der Tod über einem Weibe ſchwebt, bey der Untreue eines Mannes, die Thörin! — O mein Freund, wäre mein Schickſal gemein, ich wollte gern gemeines Übel ertragen, aber es iſt ſo außerordentlich, warum kann ichs Ihnen nicht im Spiegel zeigen, warum nicht jemand auftragen, es Ihnen zu erzählen? O wäre ich verführt, überraſcht und dann ver¬ laſſen, dann würde in der Verzweiflung noch Troſt ſeyn; aber ich bin weit ſchlimmer dar¬ an, ich habe mich ſelbſt hintergangen, mich ſelbſt wider Wiſſen betrogen, das iſts, was ich mir niemals verzeihen kann.
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Sie mich nicht verkennen. Ich glaubte eini¬
ge gelaſſene Augenblicke zu haben, darum
ließ ich Sie rufen; Sie ſind nun da, und
ich habe meinen Faden verloren.
Ein verlaßnes Geſchöpf mehr in der
Welt! werden Sie ſagen. Sie ſind ein
Mann, und denken: wie gebährdet ſie ſich
bey einem nothwendigen Übel, das gewiſſer
als der Tod über einem Weibe ſchwebt, bey
der Untreue eines Mannes, die Thörin! —
O mein Freund, wäre mein Schickſal gemein,
ich wollte gern gemeines Übel ertragen, aber
es iſt ſo außerordentlich, warum kann ichs
Ihnen nicht im Spiegel zeigen, warum nicht
jemand auftragen, es Ihnen zu erzählen? O
wäre ich verführt, überraſcht und dann ver¬
laſſen, dann würde in der Verzweiflung noch
Troſt ſeyn; aber ich bin weit ſchlimmer dar¬
an, ich habe mich ſelbſt hintergangen, mich
ſelbſt wider Wiſſen betrogen, das iſts, was
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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1795, S. 296. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre02_1795/305>, abgerufen am 23.11.2024.
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