Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795.

Bild:
<< vorherige Seite
Darum an dem langen Tage
Merke dir es, liebe Brust:
Jeder Tag hat seine Plage
Und die Nacht hat ihre Lust.

Sie machte eine leichte Verbeugung als
sie geendigt hatte, und Serlo rief ihr ein
lautes Bravo zu. Sie sprang zur Thür
hinaus und eilte mit Gelächter fort. Man
hörte sie die Treppe hinunter singen und mit
den Absätzen klappern.

Serlo ging in das Seitenzimmer, und
Aurelie blieb vor Wilhelmen, der ihr eine
gute Nacht wünschte, noch einige Augenblicke
stehen und sagte:

Wie sie mir zuwider ist! recht meinem
innern Wesen zuwider! bis auf die kleinsten
Zufälligkeiten. Die rechte braune Augen¬
wimper bey den blonden Haaren, die der
Bruder so reizend findet, mag ich gar nicht
ansehn, und die Schramme auf der Stirne

Darum an dem langen Tage
Merke dir es, liebe Bruſt:
Jeder Tag hat ſeine Plage
Und die Nacht hat ihre Luſt.

Sie machte eine leichte Verbeugung als
ſie geendigt hatte, und Serlo rief ihr ein
lautes Bravo zu. Sie ſprang zur Thür
hinaus und eilte mit Gelächter fort. Man
hörte ſie die Treppe hinunter ſingen und mit
den Abſätzen klappern.

Serlo ging in das Seitenzimmer, und
Aurelie blieb vor Wilhelmen, der ihr eine
gute Nacht wünſchte, noch einige Augenblicke
ſtehen und ſagte:

Wie ſie mir zuwider iſt! recht meinem
innern Weſen zuwider! bis auf die kleinſten
Zufälligkeiten. Die rechte braune Augen¬
wimper bey den blonden Haaren, die der
Bruder ſo reizend findet, mag ich gar nicht
anſehn, und die Schramme auf der Stirne

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <lg type="poem">
              <pb facs="#f0107" n="101"/>
              <lg n="8">
                <l rendition="#et">Darum an dem langen Tage</l><lb/>
                <l>Merke dir es, liebe Bru&#x017F;t:</l><lb/>
                <l>Jeder Tag hat &#x017F;eine Plage</l><lb/>
                <l>Und die Nacht hat ihre Lu&#x017F;t.</l><lb/>
              </lg>
            </lg>
            <p>Sie machte eine leichte Verbeugung als<lb/>
&#x017F;ie geendigt hatte, und Serlo rief ihr ein<lb/>
lautes Bravo zu. Sie &#x017F;prang zur Thür<lb/>
hinaus und eilte mit Gelächter fort. Man<lb/>
hörte &#x017F;ie die Treppe hinunter &#x017F;ingen und mit<lb/>
den Ab&#x017F;ätzen klappern.</p><lb/>
            <p>Serlo ging in das Seitenzimmer, und<lb/>
Aurelie blieb vor Wilhelmen, der ihr eine<lb/>
gute Nacht wün&#x017F;chte, noch einige Augenblicke<lb/>
&#x017F;tehen und &#x017F;agte:</p><lb/>
            <p>Wie &#x017F;ie mir zuwider i&#x017F;t! recht meinem<lb/>
innern We&#x017F;en zuwider! bis auf die klein&#x017F;ten<lb/>
Zufälligkeiten. Die rechte braune Augen¬<lb/>
wimper bey den blonden Haaren, die der<lb/>
Bruder &#x017F;o reizend findet, mag ich gar nicht<lb/>
an&#x017F;ehn, und die Schramme auf der Stirne<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[101/0107] Darum an dem langen Tage Merke dir es, liebe Bruſt: Jeder Tag hat ſeine Plage Und die Nacht hat ihre Luſt. Sie machte eine leichte Verbeugung als ſie geendigt hatte, und Serlo rief ihr ein lautes Bravo zu. Sie ſprang zur Thür hinaus und eilte mit Gelächter fort. Man hörte ſie die Treppe hinunter ſingen und mit den Abſätzen klappern. Serlo ging in das Seitenzimmer, und Aurelie blieb vor Wilhelmen, der ihr eine gute Nacht wünſchte, noch einige Augenblicke ſtehen und ſagte: Wie ſie mir zuwider iſt! recht meinem innern Weſen zuwider! bis auf die kleinſten Zufälligkeiten. Die rechte braune Augen¬ wimper bey den blonden Haaren, die der Bruder ſo reizend findet, mag ich gar nicht anſehn, und die Schramme auf der Stirne

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre03_1795
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre03_1795/107
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795, S. 101. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre03_1795/107>, abgerufen am 15.05.2024.