Meine Schwester gebahr einen Sohn, die Unpäßlichkeit meines Vaters verhinderte ihn nicht, zu ihr zu reisen. Beym Anblick des Kindes war er unglaublich heiter und froh, und bey der Taufe erschien er mir ge¬ gen seine Art wie begeistert, ja ich möchte sagen, als ein Genius mit zwey Gesichtern. Mit dem einen blickte er freudig vorwärts in jene Regionen, in die er bald einzugehen hoffte; mit dem andern auf das neue, hoff¬ nungsvolle irdische Leben, das in dem Kna¬ ben entsprungen war, der von ihm abstamm¬ te. Er ward nicht müde auf dem Rückwege mich von dem Kinde zu unterhalten, von seiner Gestalt, seiner Gesundheit, und dem Wunsche, daß die Anlagen dieses neuen Welt¬ bürgers glücklich ausgebildet werden möch¬ ten. Seine Betrachtungen hierüber dauer¬ ten fort, als wir zu Hause anlangten, und erst nach einigen Tagen bemerkte man eine
Meine Schweſter gebahr einen Sohn, die Unpäßlichkeit meines Vaters verhinderte ihn nicht, zu ihr zu reiſen. Beym Anblick des Kindes war er unglaublich heiter und froh, und bey der Taufe erſchien er mir ge¬ gen ſeine Art wie begeiſtert, ja ich möchte ſagen, als ein Genius mit zwey Geſichtern. Mit dem einen blickte er freudig vorwärts in jene Regionen, in die er bald einzugehen hoffte; mit dem andern auf das neue, hoff¬ nungsvolle irdiſche Leben, das in dem Kna¬ ben entſprungen war, der von ihm abſtamm¬ te. Er ward nicht müde auf dem Rückwege mich von dem Kinde zu unterhalten, von ſeiner Geſtalt, ſeiner Geſundheit, und dem Wunſche, daß die Anlagen dieſes neuen Welt¬ bürgers glücklich ausgebildet werden möch¬ ten. Seine Betrachtungen hierüber dauer¬ ten fort, als wir zu Hauſe anlangten, und erſt nach einigen Tagen bemerkte man eine
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Meine Schweſter gebahr einen Sohn,
die Unpäßlichkeit meines Vaters verhinderte
ihn nicht, zu ihr zu reiſen. Beym Anblick
des Kindes war er unglaublich heiter und
froh, und bey der Taufe erſchien er mir ge¬
gen ſeine Art wie begeiſtert, ja ich möchte
ſagen, als ein Genius mit zwey Geſichtern.
Mit dem einen blickte er freudig vorwärts
in jene Regionen, in die er bald einzugehen
hoffte; mit dem andern auf das neue, hoff¬
nungsvolle irdiſche Leben, das in dem Kna¬
ben entſprungen war, der von ihm abſtamm¬
te. Er ward nicht müde auf dem Rückwege
mich von dem Kinde zu unterhalten, von
ſeiner Geſtalt, ſeiner Geſundheit, und dem
Wunſche, daß die Anlagen dieſes neuen Welt¬
bürgers glücklich ausgebildet werden möch¬
ten. Seine Betrachtungen hierüber dauer¬
ten fort, als wir zu Hauſe anlangten, und
erſt nach einigen Tagen bemerkte man eine
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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795, S. 351. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre03_1795/357>, abgerufen am 04.01.2025.
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