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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796.

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Wilhelm betrachtete ihn genauer und sag¬
te nach einigem Stillschweigen: ich weiß nicht
was für eine Veränderung mit Ihnen vor¬
gegangen seyn mag, damals hielt ich Sie
für einen lutherischen Landgeistlichen und jetzt
scheinen Sie mir eher einem katholischen ähn¬
lich zu sehen.

Heute betrügen Sie sich wenigstens nicht,
sagte der andere, indem er den Hut abnahm
und die Tonsur sehen ließ. Wo ist denn
Ihre Gesellschaft hingekommen? sind Sie
noch lange bey ihr geblieben?

Länger als billig, denn leider wenn ich
an jene Zeit zurück denke, die ich mit ihr
zugebracht habe, so glaube ich in ein unend¬
liches Leere zu sehen, es ist mir nichts davon
übrig geblieben?

Darinn irren Sie sich, denn alles was
uns begegnet läßt Spuren zurück, alles trägt
unmerklich zu unserer Bildung bey; doch es

Wilhelm betrachtete ihn genauer und ſag¬
te nach einigem Stillſchweigen: ich weiß nicht
was für eine Veränderung mit Ihnen vor¬
gegangen ſeyn mag, damals hielt ich Sie
für einen lutheriſchen Landgeiſtlichen und jetzt
ſcheinen Sie mir eher einem katholiſchen ähn¬
lich zu ſehen.

Heute betrügen Sie ſich wenigſtens nicht,
ſagte der andere, indem er den Hut abnahm
und die Tonſur ſehen ließ. Wo iſt denn
Ihre Geſellſchaft hingekommen? ſind Sie
noch lange bey ihr geblieben?

Länger als billig, denn leider wenn ich
an jene Zeit zurück denke, die ich mit ihr
zugebracht habe, ſo glaube ich in ein unend¬
liches Leere zu ſehen, es iſt mir nichts davon
übrig geblieben?

Darinn irren Sie ſich, denn alles was
uns begegnet läßt Spuren zurück, alles trägt
unmerklich zu unſerer Bildung bey; doch es

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[9/0013] Wilhelm betrachtete ihn genauer und ſag¬ te nach einigem Stillſchweigen: ich weiß nicht was für eine Veränderung mit Ihnen vor¬ gegangen ſeyn mag, damals hielt ich Sie für einen lutheriſchen Landgeiſtlichen und jetzt ſcheinen Sie mir eher einem katholiſchen ähn¬ lich zu ſehen. Heute betrügen Sie ſich wenigſtens nicht, ſagte der andere, indem er den Hut abnahm und die Tonſur ſehen ließ. Wo iſt denn Ihre Geſellſchaft hingekommen? ſind Sie noch lange bey ihr geblieben? Länger als billig, denn leider wenn ich an jene Zeit zurück denke, die ich mit ihr zugebracht habe, ſo glaube ich in ein unend¬ liches Leere zu ſehen, es iſt mir nichts davon übrig geblieben? Darinn irren Sie ſich, denn alles was uns begegnet läßt Spuren zurück, alles trägt unmerklich zu unſerer Bildung bey; doch es

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre04_1796/13>, abgerufen am 21.11.2024.