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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796.

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Er trat in das Haus, und fand sich an
dem ernsthaftesten, seinem Gefühle nach,
dem heiligsten Orte, den er je betreten hatte.
Eine herabhängende blendende Laterne er¬
leuchtete eine breite sanfte Treppe, die ihm
entgegenstand, und sich oben beym Umwen¬
den in zwey Theile teilte. Marmorne Sta¬
tuen und Büsten standen auf Piedestalen und
in Nischen geordnet. Einige schienen ihm
bekannt. Jugendeindrücke verlöschen nicht
auch in ihren kleinsten Theilen. Er erkannte
eine Muse, die seinem Großvater gehört
hatte, zwar nicht an ihrer Gestalt und an
ihrem Werth, doch an einem restaurirten
Arme und an den neueingesetzten Stücken
des Gewandes. Es war, als wenn er ein
Mährchen erlebte. Das Kind ward ihm
schwer, er zauderte auf den Stufen, und
kniete nieder, als ob er es bequemer fassen
wollte. Eigentlich aber bedurfte er einer au¬

Er trat in das Haus, und fand ſich an
dem ernſthafteſten, ſeinem Gefühle nach,
dem heiligſten Orte, den er je betreten hatte.
Eine herabhängende blendende Laterne er¬
leuchtete eine breite ſanfte Treppe, die ihm
entgegenſtand, und ſich oben beym Umwen¬
den in zwey Theile teilte. Marmorne Sta¬
tuen und Büſten ſtanden auf Piedeſtalen und
in Niſchen geordnet. Einige ſchienen ihm
bekannt. Jugendeindrücke verlöſchen nicht
auch in ihren kleinſten Theilen. Er erkannte
eine Muſe, die ſeinem Großvater gehört
hatte, zwar nicht an ihrer Geſtalt und an
ihrem Werth, doch an einem reſtaurirten
Arme und an den neueingeſetzten Stücken
des Gewandes. Es war, als wenn er ein
Mährchen erlebte. Das Kind ward ihm
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kniete nieder, als ob er es bequemer faſſen
wollte. Eigentlich aber bedurfte er einer au¬

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[252/0256] Er trat in das Haus, und fand ſich an dem ernſthafteſten, ſeinem Gefühle nach, dem heiligſten Orte, den er je betreten hatte. Eine herabhängende blendende Laterne er¬ leuchtete eine breite ſanfte Treppe, die ihm entgegenſtand, und ſich oben beym Umwen¬ den in zwey Theile teilte. Marmorne Sta¬ tuen und Büſten ſtanden auf Piedeſtalen und in Niſchen geordnet. Einige ſchienen ihm bekannt. Jugendeindrücke verlöſchen nicht auch in ihren kleinſten Theilen. Er erkannte eine Muſe, die ſeinem Großvater gehört hatte, zwar nicht an ihrer Geſtalt und an ihrem Werth, doch an einem reſtaurirten Arme und an den neueingeſetzten Stücken des Gewandes. Es war, als wenn er ein Mährchen erlebte. Das Kind ward ihm ſchwer, er zauderte auf den Stufen, und kniete nieder, als ob er es bequemer faſſen wollte. Eigentlich aber bedurfte er einer au¬

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796, S. 252. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre04_1796/256>, abgerufen am 22.11.2024.