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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796.

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aus dieser Schrift entgegen leuchtete, war,
ich möchte so sagen, die Reinlichkeit des
Daseyns, nicht allein ihrer selbst, sondern
auch alles dessen, was sie umgab. Diese
Selbstständigkeit ihrer Natur und die Un¬
möglichkeit, etwas in sich aufzunehmen, was
mit der edlen, liebevollen Stimmung nicht
harmonisch war.

So sind Sie, versetzte Natalie, billiger,
ja ich darf wohl sagen, gerechter gegen diese
schöne Natur, als manche andere, denen
man auch dieses Manuscript mitgetheilt hat.
Jeder gebildete Mensch weiß, wie sehr er
an sich und andern mit einer gewissen Ro¬
heit zu kämpfen hat, wie viel ihn seine Bil¬
dung kostet, und wie sehr er doch in gewis¬
sen Fällen nur an sich selbst denkt und ver¬
gißt, was er andern schuldig ist. Wie oft
macht der gute Mensch sich Vorwürfe, daß
er nicht zart genug gehandelt habe, und

aus dieſer Schrift entgegen leuchtete, war,
ich möchte ſo ſagen, die Reinlichkeit des
Daſeyns, nicht allein ihrer ſelbſt, ſondern
auch alles deſſen, was ſie umgab. Dieſe
Selbſtſtändigkeit ihrer Natur und die Un¬
möglichkeit, etwas in ſich aufzunehmen, was
mit der edlen, liebevollen Stimmung nicht
harmoniſch war.

So ſind Sie, verſetzte Natalie, billiger,
ja ich darf wohl ſagen, gerechter gegen dieſe
ſchöne Natur, als manche andere, denen
man auch dieſes Manuſcript mitgetheilt hat.
Jeder gebildete Menſch weiß, wie ſehr er
an ſich und andern mit einer gewiſſen Ro¬
heit zu kämpfen hat, wie viel ihn ſeine Bil¬
dung koſtet, und wie ſehr er doch in gewiſ¬
ſen Fällen nur an ſich ſelbſt denkt und ver¬
gißt, was er andern ſchuldig iſt. Wie oft
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[266/0270] aus dieſer Schrift entgegen leuchtete, war, ich möchte ſo ſagen, die Reinlichkeit des Daſeyns, nicht allein ihrer ſelbſt, ſondern auch alles deſſen, was ſie umgab. Dieſe Selbſtſtändigkeit ihrer Natur und die Un¬ möglichkeit, etwas in ſich aufzunehmen, was mit der edlen, liebevollen Stimmung nicht harmoniſch war. So ſind Sie, verſetzte Natalie, billiger, ja ich darf wohl ſagen, gerechter gegen dieſe ſchöne Natur, als manche andere, denen man auch dieſes Manuſcript mitgetheilt hat. Jeder gebildete Menſch weiß, wie ſehr er an ſich und andern mit einer gewiſſen Ro¬ heit zu kämpfen hat, wie viel ihn ſeine Bil¬ dung koſtet, und wie ſehr er doch in gewiſ¬ ſen Fällen nur an ſich ſelbſt denkt und ver¬ gißt, was er andern ſchuldig iſt. Wie oft macht der gute Menſch ſich Vorwürfe, daß er nicht zart genug gehandelt habe, und

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796, S. 266. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre04_1796/270>, abgerufen am 16.07.2024.