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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796.

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doch wenn nun eine schöne Natur sich allzu
zart, sich allzu gewissenhaft bildet, ja, wenn
man will sich überbildet, für diese scheint
keine Duldung, keine Nachsicht in der Welt
zu seyn. Und doch sind die Menschen dieser
Art, außer uns, was die Ideale im Innern
sind, Vorbilder, nicht zum Nachahmen, son¬
dern zum Nachstreben. Man lacht über die
Reinlichkeit der Holländerinnen, und doch
wäre Freundin Therese nicht was sie ist,
wenn ihr nicht eine ähnliche Idee in ihrem
Hauswesen immer vorschwebte.

So finde ich also, rief Wilhelm aus, in
Theresens Freundin jene Natalie vor mir,
an welcher das Herz jener köstlichen Ver¬
wandten hing, jene Natalie, die von Ju¬
gend an so theilnehmend, so liebevoll und
hülfreich war. Nur aus einem solchen Ge¬
schlecht konnte eine solche Natur entstehen!
Welch eine Aussicht eröfnet sich vor mir, da

doch wenn nun eine ſchöne Natur ſich allzu
zart, ſich allzu gewiſſenhaft bildet, ja, wenn
man will ſich überbildet, für dieſe ſcheint
keine Duldung, keine Nachſicht in der Welt
zu ſeyn. Und doch ſind die Menſchen dieſer
Art, außer uns, was die Ideale im Innern
ſind, Vorbilder, nicht zum Nachahmen, ſon¬
dern zum Nachſtreben. Man lacht über die
Reinlichkeit der Holländerinnen, und doch
wäre Freundin Thereſe nicht was ſie iſt,
wenn ihr nicht eine ähnliche Idee in ihrem
Hausweſen immer vorſchwebte.

So finde ich alſo, rief Wilhelm aus, in
Thereſens Freundin jene Natalie vor mir,
an welcher das Herz jener köſtlichen Ver¬
wandten hing, jene Natalie, die von Ju¬
gend an ſo theilnehmend, ſo liebevoll und
hülfreich war. Nur aus einem ſolchen Ge¬
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[267/0271] doch wenn nun eine ſchöne Natur ſich allzu zart, ſich allzu gewiſſenhaft bildet, ja, wenn man will ſich überbildet, für dieſe ſcheint keine Duldung, keine Nachſicht in der Welt zu ſeyn. Und doch ſind die Menſchen dieſer Art, außer uns, was die Ideale im Innern ſind, Vorbilder, nicht zum Nachahmen, ſon¬ dern zum Nachſtreben. Man lacht über die Reinlichkeit der Holländerinnen, und doch wäre Freundin Thereſe nicht was ſie iſt, wenn ihr nicht eine ähnliche Idee in ihrem Hausweſen immer vorſchwebte. So finde ich alſo, rief Wilhelm aus, in Thereſens Freundin jene Natalie vor mir, an welcher das Herz jener köſtlichen Ver¬ wandten hing, jene Natalie, die von Ju¬ gend an ſo theilnehmend, ſo liebevoll und hülfreich war. Nur aus einem ſolchen Ge¬ ſchlecht konnte eine ſolche Natur entſtehen! Welch eine Ausſicht eröfnet ſich vor mir, da

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796, S. 267. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre04_1796/271>, abgerufen am 02.06.2024.