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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796.

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sam wieder fest an Vater und Sohn, und
schien eine Trennung von diesen mehr als
alles zu fürchten.

Natalie schien nachdenklich. Wir haben
gewünscht durch Ihre Gegenwart, sagte sie,
das arme gute Herz wieder aufzuschließen;
ob wir wohl gethan haben, weiß ich nicht.
Sie schwieg und schien zu erwarten, daß
Wilhelm etwas sagen sollte. Auch ihm fiel
ein, daß durch seine Verbindung mit There¬
sen, Mignon, unter den gegenwärtigen Um¬
ständen, aufs äußerste gekränkt werden
müsse; allein er getraute sich in seiner Un¬
gewißheit nichts von diesem Vorhaben zu
sprechen, er vermuthete nicht, daß Natalie
davon unterrichtet sey.

Eben so wenig konnte er mit Freyheit
des Geistes die Unterredung verfolgen, wenn
seine edle Freundin von ihrer Schwester
sprach, ihre guten Eigenschaften rühmte und
ihren Zustand bedauerte. Er war nicht we¬

ſam wieder feſt an Vater und Sohn, und
ſchien eine Trennung von dieſen mehr als
alles zu fürchten.

Natalie ſchien nachdenklich. Wir haben
gewünſcht durch Ihre Gegenwart, ſagte ſie,
das arme gute Herz wieder aufzuſchließen;
ob wir wohl gethan haben, weiß ich nicht.
Sie ſchwieg und ſchien zu erwarten, daß
Wilhelm etwas ſagen ſollte. Auch ihm fiel
ein, daß durch ſeine Verbindung mit There¬
ſen, Mignon, unter den gegenwärtigen Um¬
ſtänden, aufs äußerſte gekränkt werden
müſſe; allein er getraute ſich in ſeiner Un¬
gewißheit nichts von dieſem Vorhaben zu
ſprechen, er vermuthete nicht, daß Natalie
davon unterrichtet ſey.

Eben ſo wenig konnte er mit Freyheit
des Geiſtes die Unterredung verfolgen, wenn
ſeine edle Freundin von ihrer Schweſter
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ihren Zuſtand bedauerte. Er war nicht we¬

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[293/0297] ſam wieder feſt an Vater und Sohn, und ſchien eine Trennung von dieſen mehr als alles zu fürchten. Natalie ſchien nachdenklich. Wir haben gewünſcht durch Ihre Gegenwart, ſagte ſie, das arme gute Herz wieder aufzuſchließen; ob wir wohl gethan haben, weiß ich nicht. Sie ſchwieg und ſchien zu erwarten, daß Wilhelm etwas ſagen ſollte. Auch ihm fiel ein, daß durch ſeine Verbindung mit There¬ ſen, Mignon, unter den gegenwärtigen Um¬ ſtänden, aufs äußerſte gekränkt werden müſſe; allein er getraute ſich in ſeiner Un¬ gewißheit nichts von dieſem Vorhaben zu ſprechen, er vermuthete nicht, daß Natalie davon unterrichtet ſey. Eben ſo wenig konnte er mit Freyheit des Geiſtes die Unterredung verfolgen, wenn ſeine edle Freundin von ihrer Schweſter ſprach, ihre guten Eigenſchaften rühmte und ihren Zuſtand bedauerte. Er war nicht we¬

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796, S. 293. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre04_1796/297>, abgerufen am 22.11.2024.