Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796.

Bild:
<< vorherige Seite

überzusetzen, wir hielten ihn ab, und baten
ihn, daß er keinen Schritt thun möchte, der
die schrecklichsten Folgen haben könnte. Er
solle überlegen, daß er nicht in der freyen
Welt seiner Gedanken und Vorstellungen,
sondern in einer Verfassung lebe, deren Ge¬
setze und Verhältnisse die Unbezwinglichkeit
eines Naturgesetzes angenommen haben. Wir
mußten dem Beichtvater versprechen, daß
wir den Bruder nicht aus den Augen, noch
weniger aus dem Schlosse lassen wollten,
darauf ging er weg, und versprach in eini¬
gen Tagen wieder zu kommen. Was wir
vorausgesehen hatten, traf ein, der Verstand
hatte unsern Bruder stark gemacht, aber
sein Herz war weich; die frühern Eindrücke
der Religion wurden lebhaft, und die ent¬
setzlichsten Zweifel bemächtigten sich seiner.
Er brachte zwey fürchterliche Tage und
Nächte zu, der Beichtvater kam ihm wieder

überzuſetzen, wir hielten ihn ab, und baten
ihn, daß er keinen Schritt thun möchte, der
die ſchrecklichſten Folgen haben könnte. Er
ſolle überlegen, daß er nicht in der freyen
Welt ſeiner Gedanken und Vorſtellungen,
ſondern in einer Verfaſſung lebe, deren Ge¬
ſetze und Verhältniſſe die Unbezwinglichkeit
eines Naturgeſetzes angenommen haben. Wir
mußten dem Beichtvater verſprechen, daß
wir den Bruder nicht aus den Augen, noch
weniger aus dem Schloſſe laſſen wollten,
darauf ging er weg, und verſprach in eini¬
gen Tagen wieder zu kommen. Was wir
vorausgeſehen hatten, traf ein, der Verſtand
hatte unſern Bruder ſtark gemacht, aber
ſein Herz war weich; die frühern Eindrücke
der Religion wurden lebhaft, und die ent¬
ſetzlichſten Zweifel bemächtigten ſich ſeiner.
Er brachte zwey fürchterliche Tage und
Nächte zu, der Beichtvater kam ihm wieder

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0444" n="440"/>
überzu&#x017F;etzen, wir hielten ihn ab, und baten<lb/>
ihn, daß er keinen Schritt thun möchte, der<lb/>
die &#x017F;chrecklich&#x017F;ten Folgen haben könnte. Er<lb/>
&#x017F;olle überlegen, daß er nicht in der freyen<lb/>
Welt &#x017F;einer Gedanken und Vor&#x017F;tellungen,<lb/>
&#x017F;ondern in einer Verfa&#x017F;&#x017F;ung lebe, deren Ge¬<lb/>
&#x017F;etze und Verhältni&#x017F;&#x017F;e die Unbezwinglichkeit<lb/>
eines Naturge&#x017F;etzes angenommen haben. Wir<lb/>
mußten dem Beichtvater ver&#x017F;prechen, daß<lb/>
wir den Bruder nicht aus den Augen, noch<lb/>
weniger aus dem Schlo&#x017F;&#x017F;e la&#x017F;&#x017F;en wollten,<lb/>
darauf ging er weg, und ver&#x017F;prach in eini¬<lb/>
gen Tagen wieder zu kommen. Was wir<lb/>
vorausge&#x017F;ehen hatten, traf ein, der Ver&#x017F;tand<lb/>
hatte un&#x017F;ern Bruder &#x017F;tark gemacht, aber<lb/>
&#x017F;ein Herz war weich; die frühern Eindrücke<lb/>
der Religion wurden lebhaft, und die ent¬<lb/>
&#x017F;etzlich&#x017F;ten Zweifel bemächtigten &#x017F;ich &#x017F;einer.<lb/>
Er brachte zwey fürchterliche Tage und<lb/>
Nächte zu, der Beichtvater kam ihm wieder<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[440/0444] überzuſetzen, wir hielten ihn ab, und baten ihn, daß er keinen Schritt thun möchte, der die ſchrecklichſten Folgen haben könnte. Er ſolle überlegen, daß er nicht in der freyen Welt ſeiner Gedanken und Vorſtellungen, ſondern in einer Verfaſſung lebe, deren Ge¬ ſetze und Verhältniſſe die Unbezwinglichkeit eines Naturgeſetzes angenommen haben. Wir mußten dem Beichtvater verſprechen, daß wir den Bruder nicht aus den Augen, noch weniger aus dem Schloſſe laſſen wollten, darauf ging er weg, und verſprach in eini¬ gen Tagen wieder zu kommen. Was wir vorausgeſehen hatten, traf ein, der Verſtand hatte unſern Bruder ſtark gemacht, aber ſein Herz war weich; die frühern Eindrücke der Religion wurden lebhaft, und die ent¬ ſetzlichſten Zweifel bemächtigten ſich ſeiner. Er brachte zwey fürchterliche Tage und Nächte zu, der Beichtvater kam ihm wieder

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre04_1796
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre04_1796/444
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796, S. 440. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre04_1796/444>, abgerufen am 22.11.2024.