Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796.

Bild:
<< vorherige Seite

schaft und Niederkunft zu verbergen. Sie war
als Mutter in dem kleinen Geschöpfe ganz
glücklich. So wie die meisten unserer Mäd¬
chen konnte sie weder schreiben, noch Ge¬
schriebenes lesen, sie gab daher dem Pater
Aufträge, was er ihrem Geliebten sagen
sollte. Dieser glaubte den frommen Betrug
einer säugenden Mutter schuldig zu seyn, er
brachte ihr Nachrichten von unserm Bruder,
den er niemals sah, ermahnte sie in seinem
Nahmen zur Ruhe, bat sie für sich und das
Kind zu sorgen, und wegen der Zukunft
Gott zu vertrauen.

Sperata war von Natur zur Religiosität
geneigt. Ihr Zustand, ihre Einsamkeit ver¬
mehrten diesen Zug, der Geistliche unter¬
hielt ihn, um sie nach und nach auf eine
ewige Trennung vorzubereiten. Kaum war
das Kind entwöhnt, kaum glaubte er ihren
Körper stark genug, die ängstlichsten See¬

ſchaft und Niederkunft zu verbergen. Sie war
als Mutter in dem kleinen Geſchöpfe ganz
glücklich. So wie die meiſten unſerer Mäd¬
chen konnte ſie weder ſchreiben, noch Ge¬
ſchriebenes leſen, ſie gab daher dem Pater
Aufträge, was er ihrem Geliebten ſagen
ſollte. Dieſer glaubte den frommen Betrug
einer ſäugenden Mutter ſchuldig zu ſeyn, er
brachte ihr Nachrichten von unſerm Bruder,
den er niemals ſah, ermahnte ſie in ſeinem
Nahmen zur Ruhe, bat ſie für ſich und das
Kind zu ſorgen, und wegen der Zukunft
Gott zu vertrauen.

Sperata war von Natur zur Religioſität
geneigt. Ihr Zuſtand, ihre Einſamkeit ver¬
mehrten dieſen Zug, der Geiſtliche unter¬
hielt ihn, um ſie nach und nach auf eine
ewige Trennung vorzubereiten. Kaum war
das Kind entwöhnt, kaum glaubte er ihren
Körper ſtark genug, die ängſtlichſten See¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0447" n="443"/>
&#x017F;chaft und Niederkunft zu verbergen. Sie war<lb/>
als Mutter in dem kleinen Ge&#x017F;chöpfe ganz<lb/>
glücklich. So wie die mei&#x017F;ten un&#x017F;erer Mäd¬<lb/>
chen konnte &#x017F;ie weder &#x017F;chreiben, noch Ge¬<lb/>
&#x017F;chriebenes le&#x017F;en, &#x017F;ie gab daher dem Pater<lb/>
Aufträge, was er ihrem Geliebten &#x017F;agen<lb/>
&#x017F;ollte. Die&#x017F;er glaubte den frommen Betrug<lb/>
einer &#x017F;äugenden Mutter &#x017F;chuldig zu &#x017F;eyn, er<lb/>
brachte ihr Nachrichten von un&#x017F;erm Bruder,<lb/>
den er niemals &#x017F;ah, ermahnte &#x017F;ie in &#x017F;einem<lb/>
Nahmen zur Ruhe, bat &#x017F;ie für &#x017F;ich und das<lb/>
Kind zu &#x017F;orgen, und wegen der Zukunft<lb/>
Gott zu vertrauen.</p><lb/>
            <p>Sperata war von Natur zur Religio&#x017F;ität<lb/>
geneigt. Ihr Zu&#x017F;tand, ihre Ein&#x017F;amkeit ver¬<lb/>
mehrten die&#x017F;en Zug, der Gei&#x017F;tliche unter¬<lb/>
hielt ihn, um &#x017F;ie nach und nach auf eine<lb/>
ewige Trennung vorzubereiten. Kaum war<lb/>
das Kind entwöhnt, kaum glaubte er ihren<lb/>
Körper &#x017F;tark genug, die äng&#x017F;tlich&#x017F;ten See¬<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[443/0447] ſchaft und Niederkunft zu verbergen. Sie war als Mutter in dem kleinen Geſchöpfe ganz glücklich. So wie die meiſten unſerer Mäd¬ chen konnte ſie weder ſchreiben, noch Ge¬ ſchriebenes leſen, ſie gab daher dem Pater Aufträge, was er ihrem Geliebten ſagen ſollte. Dieſer glaubte den frommen Betrug einer ſäugenden Mutter ſchuldig zu ſeyn, er brachte ihr Nachrichten von unſerm Bruder, den er niemals ſah, ermahnte ſie in ſeinem Nahmen zur Ruhe, bat ſie für ſich und das Kind zu ſorgen, und wegen der Zukunft Gott zu vertrauen. Sperata war von Natur zur Religioſität geneigt. Ihr Zuſtand, ihre Einſamkeit ver¬ mehrten dieſen Zug, der Geiſtliche unter¬ hielt ihn, um ſie nach und nach auf eine ewige Trennung vorzubereiten. Kaum war das Kind entwöhnt, kaum glaubte er ihren Körper ſtark genug, die ängſtlichſten See¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre04_1796
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre04_1796/447
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796, S. 443. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre04_1796/447>, abgerufen am 16.07.2024.