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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796.

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glückliche begleiten solle, und sie hat mit
einer bewundernswürdigen Geduld und Ge¬
wissenhaftigkeit ihre Pflichten bis zuletzt
ausgeübt.

Wir hatten unterdessen unsern Bruder
nicht aus den Augen verlohren, weder die
Ärzte noch die Geistlichkeit seines Klosters
wollten uns erlauben, vor ihm zu erschei¬
nen; allein um uns zu überzeugen, daß es
ihm nach seiner Art wohl gehe, konnten wir
ihn, so oft wir wollten, in dem Garten, in
den Kreuzgängen, ja durch ein Fenster an
der Decke seines Zimmers belauschen.

Nach vielen schrecklichen und sonderbaren
Epochen, die ich übergehe, war er in einen
seltsamen Zustand der Ruhe des Geistes und
der Unruhe des Körpers gerathen. Er saß
fast niemals, als wenn er seine Harfe nahm
und darauf spielte, da er sie denn meistens
mit Gesang begleitete. Übrigens war er im¬

glückliche begleiten ſolle, und ſie hat mit
einer bewundernswürdigen Geduld und Ge¬
wiſſenhaftigkeit ihre Pflichten bis zuletzt
ausgeübt.

Wir hatten unterdeſſen unſern Bruder
nicht aus den Augen verlohren, weder die
Ärzte noch die Geiſtlichkeit ſeines Kloſters
wollten uns erlauben, vor ihm zu erſchei¬
nen; allein um uns zu überzeugen, daß es
ihm nach ſeiner Art wohl gehe, konnten wir
ihn, ſo oft wir wollten, in dem Garten, in
den Kreuzgängen, ja durch ein Fenſter an
der Decke ſeines Zimmers belauſchen.

Nach vielen ſchrecklichen und ſonderbaren
Epochen, die ich übergehe, war er in einen
ſeltſamen Zuſtand der Ruhe des Geiſtes und
der Unruhe des Körpers gerathen. Er ſaß
faſt niemals, als wenn er ſeine Harfe nahm
und darauf ſpielte, da er ſie denn meiſtens
mit Geſang begleitete. Übrigens war er im¬

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[453/0457] glückliche begleiten ſolle, und ſie hat mit einer bewundernswürdigen Geduld und Ge¬ wiſſenhaftigkeit ihre Pflichten bis zuletzt ausgeübt. Wir hatten unterdeſſen unſern Bruder nicht aus den Augen verlohren, weder die Ärzte noch die Geiſtlichkeit ſeines Kloſters wollten uns erlauben, vor ihm zu erſchei¬ nen; allein um uns zu überzeugen, daß es ihm nach ſeiner Art wohl gehe, konnten wir ihn, ſo oft wir wollten, in dem Garten, in den Kreuzgängen, ja durch ein Fenſter an der Decke ſeines Zimmers belauſchen. Nach vielen ſchrecklichen und ſonderbaren Epochen, die ich übergehe, war er in einen ſeltſamen Zuſtand der Ruhe des Geiſtes und der Unruhe des Körpers gerathen. Er ſaß faſt niemals, als wenn er ſeine Harfe nahm und darauf ſpielte, da er ſie denn meiſtens mit Geſang begleitete. Übrigens war er im¬

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796, S. 453. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre04_1796/457>, abgerufen am 18.06.2024.