Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Die neue Melusine. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 1. München, [1871], S. 1–43. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

meine Flasche auf dem Vorsaal, als daß ich Sie stören wollte.["] -- Diese Anrede bestach uns sogleich, und der Vorsitzende, der die Zustimmung schon in unseren Augen gelesen hatte, lud ihn ein, sich zu uns zu setzen, und wenn er unsere Geschichten angehört, auch die seinige mitzutheilen.

"Der Fremde ging diesen Vorschlag mit Vergnügen ein, und als nach einigen angenehm vollbrachten Stunden gegen Mitternacht die Reihe nunmehr an ihn kam, so begann er seine Rede mit einer gewissen zutraulichen Bescheidenheit, die zu seinem übrigen Wesen vollkommen passend war.

"Es ist nicht zu leugnen, meine Herren, daß die Begebenheiten und Liebesabenteuer, deren Sie sich rühmen, für merkwürdig und bedeutend zu halten sind; aber Sie erlauben mir zu sagen, daß ich eines zu erzählen habe, welches die bisherigen weit übertrifft, und das, wiewohl es mir schon vor einigen Jahren begegnet, mich noch immer in der Erinnerung unruhig macht, ja sogar eine endliche Entwicklung hoffen läßt. Es möchte schwerlich seines Gleichen finden."

In den letzten Worten fällt der Text bereits mit der späteren Rahmenerzählung zusammen, und von hier an läuft der Vortrag gleichlautend fort. Nur würde man irren, wenn man glaubte, daß das Märchen sich nun vollständig angeschlossen habe. Nein, vielmehr geleitet von der bekannten Neigung, zu zerstückeln und nicht gleich mit dem Ganzen herauszurücken, gab der Dichter nur die Hälfte des ohnehin so kleinen Stückes, und das Bruchstückchen schloß, unbefriedigend genug, mit den Worten: "Vernimm also: --" Also, da das Damentaschenbuch in jährlichen Zwischenräumen herauskam, mußte eine Pause von dieser Länge erduldet werden? O nein, geneigter Leser, der Jahrgang 1818 brachte den "Mann von fünfzig Jahren", und erst im Jahrgang 1819, somit nach mehr als siebzehntausend Wartestunden,

meine Flasche auf dem Vorsaal, als daß ich Sie stören wollte.[“] — Diese Anrede bestach uns sogleich, und der Vorsitzende, der die Zustimmung schon in unseren Augen gelesen hatte, lud ihn ein, sich zu uns zu setzen, und wenn er unsere Geschichten angehört, auch die seinige mitzutheilen.

„Der Fremde ging diesen Vorschlag mit Vergnügen ein, und als nach einigen angenehm vollbrachten Stunden gegen Mitternacht die Reihe nunmehr an ihn kam, so begann er seine Rede mit einer gewissen zutraulichen Bescheidenheit, die zu seinem übrigen Wesen vollkommen passend war.

„Es ist nicht zu leugnen, meine Herren, daß die Begebenheiten und Liebesabenteuer, deren Sie sich rühmen, für merkwürdig und bedeutend zu halten sind; aber Sie erlauben mir zu sagen, daß ich eines zu erzählen habe, welches die bisherigen weit übertrifft, und das, wiewohl es mir schon vor einigen Jahren begegnet, mich noch immer in der Erinnerung unruhig macht, ja sogar eine endliche Entwicklung hoffen läßt. Es möchte schwerlich seines Gleichen finden.“

In den letzten Worten fällt der Text bereits mit der späteren Rahmenerzählung zusammen, und von hier an läuft der Vortrag gleichlautend fort. Nur würde man irren, wenn man glaubte, daß das Märchen sich nun vollständig angeschlossen habe. Nein, vielmehr geleitet von der bekannten Neigung, zu zerstückeln und nicht gleich mit dem Ganzen herauszurücken, gab der Dichter nur die Hälfte des ohnehin so kleinen Stückes, und das Bruchstückchen schloß, unbefriedigend genug, mit den Worten: „Vernimm also: —“ Also, da das Damentaschenbuch in jährlichen Zwischenräumen herauskam, mußte eine Pause von dieser Länge erduldet werden? O nein, geneigter Leser, der Jahrgang 1818 brachte den „Mann von fünfzig Jahren“, und erst im Jahrgang 1819, somit nach mehr als siebzehntausend Wartestunden,

<TEI>
  <text>
    <front>
      <div type="preface">
        <cit>
          <quote>
            <p><pb facs="#f0008"/>
meine Flasche auf dem Vorsaal, als daß ich Sie stören wollte.<supplied>&#x201C;</supplied> &#x2014; Diese Anrede bestach uns sogleich, und der Vorsitzende, der die Zustimmung schon in unseren Augen gelesen hatte, lud ihn ein, sich zu uns zu setzen, und wenn er unsere Geschichten angehört, auch die seinige mitzutheilen.</p><lb/>
            <p>&#x201E;Der Fremde ging diesen Vorschlag mit Vergnügen ein, und als nach einigen angenehm             vollbrachten Stunden gegen Mitternacht die Reihe nunmehr an ihn kam, so begann er seine             Rede mit einer gewissen zutraulichen Bescheidenheit, die zu seinem übrigen Wesen             vollkommen passend war.</p><lb/>
            <p>&#x201E;Es ist nicht zu leugnen, meine Herren, daß die Begebenheiten und Liebesabenteuer, deren             Sie sich rühmen, für merkwürdig und bedeutend zu halten sind; aber Sie erlauben mir zu             sagen, daß ich eines zu erzählen habe, welches die bisherigen weit übertrifft, und das,             wiewohl es mir schon vor einigen Jahren begegnet, mich noch immer in der Erinnerung             unruhig macht, ja sogar eine endliche Entwicklung hoffen läßt. Es möchte schwerlich             seines Gleichen finden.&#x201C;</p><lb/>
          </quote>
        </cit>
        <p>In den letzten Worten fällt der Text bereits mit der späteren Rahmenerzählung zusammen, und von hier an läuft der Vortrag gleichlautend fort. Nur würde man irren, wenn man glaubte, daß das Märchen sich nun vollständig angeschlossen habe. Nein, vielmehr geleitet von der bekannten Neigung, zu zerstückeln und nicht gleich mit dem Ganzen herauszurücken, gab der Dichter nur die Hälfte des ohnehin so kleinen Stückes, und das Bruchstückchen schloß, unbefriedigend genug, mit den Worten: <cit><quote>&#x201E;Vernimm also: &#x2014;&#x201C;</quote></cit> Also, da das Damentaschenbuch in jährlichen Zwischenräumen herauskam, mußte eine Pause von dieser Länge erduldet werden? O nein, geneigter Leser, der Jahrgang 1818 brachte den <cit><quote>&#x201E;Mann von fünfzig Jahren&#x201C;</quote></cit>, und erst im Jahrgang 1819, somit nach mehr als siebzehntausend Wartestunden,<lb/></p>
      </div>
    </front>
  </text>
</TEI>
[0008] meine Flasche auf dem Vorsaal, als daß ich Sie stören wollte.“ — Diese Anrede bestach uns sogleich, und der Vorsitzende, der die Zustimmung schon in unseren Augen gelesen hatte, lud ihn ein, sich zu uns zu setzen, und wenn er unsere Geschichten angehört, auch die seinige mitzutheilen. „Der Fremde ging diesen Vorschlag mit Vergnügen ein, und als nach einigen angenehm vollbrachten Stunden gegen Mitternacht die Reihe nunmehr an ihn kam, so begann er seine Rede mit einer gewissen zutraulichen Bescheidenheit, die zu seinem übrigen Wesen vollkommen passend war. „Es ist nicht zu leugnen, meine Herren, daß die Begebenheiten und Liebesabenteuer, deren Sie sich rühmen, für merkwürdig und bedeutend zu halten sind; aber Sie erlauben mir zu sagen, daß ich eines zu erzählen habe, welches die bisherigen weit übertrifft, und das, wiewohl es mir schon vor einigen Jahren begegnet, mich noch immer in der Erinnerung unruhig macht, ja sogar eine endliche Entwicklung hoffen läßt. Es möchte schwerlich seines Gleichen finden.“ In den letzten Worten fällt der Text bereits mit der späteren Rahmenerzählung zusammen, und von hier an läuft der Vortrag gleichlautend fort. Nur würde man irren, wenn man glaubte, daß das Märchen sich nun vollständig angeschlossen habe. Nein, vielmehr geleitet von der bekannten Neigung, zu zerstückeln und nicht gleich mit dem Ganzen herauszurücken, gab der Dichter nur die Hälfte des ohnehin so kleinen Stückes, und das Bruchstückchen schloß, unbefriedigend genug, mit den Worten: „Vernimm also: —“ Also, da das Damentaschenbuch in jährlichen Zwischenräumen herauskam, mußte eine Pause von dieser Länge erduldet werden? O nein, geneigter Leser, der Jahrgang 1818 brachte den „Mann von fünfzig Jahren“, und erst im Jahrgang 1819, somit nach mehr als siebzehntausend Wartestunden,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-14T15:38:58Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-14T15:38:58Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: nein; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_melusine_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_melusine_1910/8
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die neue Melusine. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 1. München, [1871], S. 1–43. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_melusine_1910/8>, abgerufen am 21.11.2024.