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Goethe, Johann Wolfgang von: Die neue Melusine. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 1. München, [1871], S. 1–43. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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selten geworden sein wird, als eine gewiß beliebte literarische Curiosität hier mittheilen.

"Vorwort.

"Man hat das Märchen verlangt, von welchem ich zu Ende des zweiten Bandes meiner Bekenntnisse gesprochen. Leider werde ich es jetzo in seiner ersten unschuldigen Freiheit nicht überliefern; es ist lange nachher aufgeschrieben worden und deutet in seiner jetzigen Ausbildung auf eine reifere Zeit, als die ist, mit der wir uns dort beschäftigten. So viel reiche hin, um den einseitigen Hörer vorzubereiten. Sollte ich also gegenwärtig jenes Märchen erzählen, so würde ich folgendergestalt anfangen:


"Wir hatten uns eines Abends, eine Gesellschaft junger Leute, im Weinhause versammelt, um ein kleines Fest zu feiern. Damit es nun nicht, wie wohl öfters geschah, durch zufällige Gespräche und ohngefähren Widerspruch gestört würde, so hatten wir ausgemacht, daß Jeder die seltsamste Liebesgeschichte, die ihm begegnet, erzählen und die Gesellschaft dadurch ergötzen und unterhalten sollte. Der Erste, den das Loos traf, hatte schon angefangen, seine Pflicht zu erfüllen, als ein Fremder hereintrat, den wir um so mehr betrachteten, als uns seine störende Gegenwart unangenehm fiel. Er war von ansehnlicher Statur, breitschultrig; sein Betragen gewandt und sicher und bei einiger Rohheit gefällig. Sein schwarzes Kraushaar gab ihm ein jugendliches, sein glattrasirter blauer Bart ein männliches Ansehen. Er setzte sich zu seiner Flasche an einen besonderen Tisch; doch kaum bemerkte er, daß wir zu schweigen fortfuhren, so trat er zu uns heran und sagte mit höflicher Gebärde: ["]Meine Herren, ich bin hier herein als in eine Wirthsstube getreten, Sie sind aber, wie ich merke, in geschlossener Gesellschaft versammelt, und ich trinke lieber

selten geworden sein wird, als eine gewiß beliebte literarische Curiosität hier mittheilen.

„Vorwort.

„Man hat das Märchen verlangt, von welchem ich zu Ende des zweiten Bandes meiner Bekenntnisse gesprochen. Leider werde ich es jetzo in seiner ersten unschuldigen Freiheit nicht überliefern; es ist lange nachher aufgeschrieben worden und deutet in seiner jetzigen Ausbildung auf eine reifere Zeit, als die ist, mit der wir uns dort beschäftigten. So viel reiche hin, um den einseitigen Hörer vorzubereiten. Sollte ich also gegenwärtig jenes Märchen erzählen, so würde ich folgendergestalt anfangen:


„Wir hatten uns eines Abends, eine Gesellschaft junger Leute, im Weinhause versammelt, um ein kleines Fest zu feiern. Damit es nun nicht, wie wohl öfters geschah, durch zufällige Gespräche und ohngefähren Widerspruch gestört würde, so hatten wir ausgemacht, daß Jeder die seltsamste Liebesgeschichte, die ihm begegnet, erzählen und die Gesellschaft dadurch ergötzen und unterhalten sollte. Der Erste, den das Loos traf, hatte schon angefangen, seine Pflicht zu erfüllen, als ein Fremder hereintrat, den wir um so mehr betrachteten, als uns seine störende Gegenwart unangenehm fiel. Er war von ansehnlicher Statur, breitschultrig; sein Betragen gewandt und sicher und bei einiger Rohheit gefällig. Sein schwarzes Kraushaar gab ihm ein jugendliches, sein glattrasirter blauer Bart ein männliches Ansehen. Er setzte sich zu seiner Flasche an einen besonderen Tisch; doch kaum bemerkte er, daß wir zu schweigen fortfuhren, so trat er zu uns heran und sagte mit höflicher Gebärde: [„]Meine Herren, ich bin hier herein als in eine Wirthsstube getreten, Sie sind aber, wie ich merke, in geschlossener Gesellschaft versammelt, und ich trinke lieber

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[0007] selten geworden sein wird, als eine gewiß beliebte literarische Curiosität hier mittheilen. „Vorwort. „Man hat das Märchen verlangt, von welchem ich zu Ende des zweiten Bandes meiner Bekenntnisse gesprochen. Leider werde ich es jetzo in seiner ersten unschuldigen Freiheit nicht überliefern; es ist lange nachher aufgeschrieben worden und deutet in seiner jetzigen Ausbildung auf eine reifere Zeit, als die ist, mit der wir uns dort beschäftigten. So viel reiche hin, um den einseitigen Hörer vorzubereiten. Sollte ich also gegenwärtig jenes Märchen erzählen, so würde ich folgendergestalt anfangen: „Wir hatten uns eines Abends, eine Gesellschaft junger Leute, im Weinhause versammelt, um ein kleines Fest zu feiern. Damit es nun nicht, wie wohl öfters geschah, durch zufällige Gespräche und ohngefähren Widerspruch gestört würde, so hatten wir ausgemacht, daß Jeder die seltsamste Liebesgeschichte, die ihm begegnet, erzählen und die Gesellschaft dadurch ergötzen und unterhalten sollte. Der Erste, den das Loos traf, hatte schon angefangen, seine Pflicht zu erfüllen, als ein Fremder hereintrat, den wir um so mehr betrachteten, als uns seine störende Gegenwart unangenehm fiel. Er war von ansehnlicher Statur, breitschultrig; sein Betragen gewandt und sicher und bei einiger Rohheit gefällig. Sein schwarzes Kraushaar gab ihm ein jugendliches, sein glattrasirter blauer Bart ein männliches Ansehen. Er setzte sich zu seiner Flasche an einen besonderen Tisch; doch kaum bemerkte er, daß wir zu schweigen fortfuhren, so trat er zu uns heran und sagte mit höflicher Gebärde: „Meine Herren, ich bin hier herein als in eine Wirthsstube getreten, Sie sind aber, wie ich merke, in geschlossener Gesellschaft versammelt, und ich trinke lieber

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die neue Melusine. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 1. München, [1871], S. 1–43. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_melusine_1910/7>, abgerufen am 21.11.2024.