Die Natur bildet einen gemeinschaftlichen Kelch, aus vielen Blättern, welche sie auf einander drängt und um Eine Axe versammlet; mit eben diesem starken Triebe des Wachsthums entwickelt sie einen gleichsam unendlichen Stengel, mit allen seinen Augen in Blüthengestalt, auf einmal, in der möglichsten an einander gedrängten Nähe, und jedes Blümchen befruchtet das unter ihm schon vorbereitete Samen- gefäss. Bey dieser ungeheuren Zusammenziehung verlieren sich die Knotenblätter nicht immer; bey den Disteln begleitet das Blättchen getreulich das Blümchen, das sich aus den Augen neben ihnen entwickelt. Man vergleiche mit diesem Paragraph die Gestalt des Dipsacus laciniatus. Bey vielen Gräsern wird eine jede Blüthe durch ein solches Blättchen, das in diesem Falle der Balg genannt wird, begleitet.
§. 100.
Auf diese Weise wird es uns nun anschaulich seyn, wie die, um einen gemeinsamen Blüthen- stand entwickelte Samen, wahre, durch die Wirkung
§. 99.
Die Natur bildet einen gemeinſchaftlichen Kelch, aus vielen Blättern, welche ſie auf einander drängt und um Eine Axe verſammlet; mit eben dieſem ſtarken Triebe des Wachsthums entwickelt ſie einen gleichſam unendlichen Stengel, mit allen ſeinen Augen in Blüthengeſtalt, auf einmal, in der möglichſten an einander gedrängten Nähe, und jedes Blümchen befruchtet das unter ihm ſchon vorbereitete Samen- gefäſs. Bey dieſer ungeheuren Zuſammenziehung verlieren ſich die Knotenblätter nicht immer; bey den Diſteln begleitet das Blättchen getreulich das Blümchen, das ſich aus den Augen neben ihnen entwickelt. Man vergleiche mit dieſem Paragraph die Geſtalt des Dipſacus laciniatus. Bey vielen Gräſern wird eine jede Blüthe durch ein ſolches Blättchen, das in dieſem Falle der Balg genannt wird, begleitet.
§. 100.
Auf dieſe Weiſe wird es uns nun anſchaulich ſeyn, wie die, um einen gemeinſamen Blüthen- ſtand entwickelte Samen, wahre, durch die Wirkung
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0081"n="66"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><divn="2"><head><hirendition="#c">§. 99.</hi></head><lb/><p>Die Natur bildet einen <hirendition="#i">gemeinſchaftlichen Kelch</hi>,<lb/>
aus <hirendition="#i">vielen</hi> Blättern, welche ſie auf einander drängt<lb/>
und um Eine Axe verſammlet; mit eben dieſem<lb/>ſtarken Triebe des Wachsthums entwickelt ſie<lb/><hirendition="#i">einen</hi> gleichſam <hirendition="#i">unendlichen Stengel, mit allen ſeinen<lb/>
Augen in Blüthengeſtalt, auf einmal, in der möglichſten</hi><lb/>
an einander gedrängten <hirendition="#i">Nähe</hi>, und jedes Blümchen<lb/>
befruchtet das unter ihm ſchon vorbereitete Samen-<lb/>
gefäſs. Bey dieſer ungeheuren Zuſammenziehung<lb/>
verlieren ſich die Knotenblätter nicht immer; bey<lb/>
den Diſteln begleitet das Blättchen getreulich das<lb/>
Blümchen, das ſich aus den Augen neben ihnen<lb/>
entwickelt. Man vergleiche mit dieſem Paragraph<lb/>
die Geſtalt des Dipſacus laciniatus. Bey vielen<lb/>
Gräſern wird eine jede Blüthe durch ein ſolches<lb/>
Blättchen, das in dieſem Falle der Balg genannt<lb/>
wird, begleitet.</p></div><lb/><divn="2"><head><hirendition="#c">§. 100.</hi></head><lb/><p>Auf dieſe Weiſe wird es uns nun anſchaulich<lb/>ſeyn, wie <hirendition="#i">die, um einen gemeinſamen Blüthen-<lb/>ſtand entwickelte Samen, wahre</hi>, durch die <hirendition="#i">Wirkung<lb/></hi></p></div></div></body></text></TEI>
[66/0081]
§. 99.
Die Natur bildet einen gemeinſchaftlichen Kelch,
aus vielen Blättern, welche ſie auf einander drängt
und um Eine Axe verſammlet; mit eben dieſem
ſtarken Triebe des Wachsthums entwickelt ſie
einen gleichſam unendlichen Stengel, mit allen ſeinen
Augen in Blüthengeſtalt, auf einmal, in der möglichſten
an einander gedrängten Nähe, und jedes Blümchen
befruchtet das unter ihm ſchon vorbereitete Samen-
gefäſs. Bey dieſer ungeheuren Zuſammenziehung
verlieren ſich die Knotenblätter nicht immer; bey
den Diſteln begleitet das Blättchen getreulich das
Blümchen, das ſich aus den Augen neben ihnen
entwickelt. Man vergleiche mit dieſem Paragraph
die Geſtalt des Dipſacus laciniatus. Bey vielen
Gräſern wird eine jede Blüthe durch ein ſolches
Blättchen, das in dieſem Falle der Balg genannt
wird, begleitet.
§. 100.
Auf dieſe Weiſe wird es uns nun anſchaulich
ſeyn, wie die, um einen gemeinſamen Blüthen-
ſtand entwickelte Samen, wahre, durch die Wirkung
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Es existieren zwei Drucke des "Versuchs" von 1790… [mehr]
Es existieren zwei Drucke des "Versuchs" von 1790. Nach Waltraud Hagen (Die Drucke von Goethes Werken) umfassen diese in der Erstausgabe (Hagen S. 211) 86 Seiten und in einer zweiten Ausgabe aus dem gleichen Jahr (Hagen S. 212) 79 Seiten. Für das Deutsche Textarchiv wurde die 86-seitige Ausgabe zu grunde gelegte.
Goethe, Johann Wolfgang von: Versuch die Metamorphose der Pflanzen zu erklären. Gotha, 1790, S. 66. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_metamorphose_1790/81>, abgerufen am 19.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.