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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 1. Tübingen, 1809.

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befürchtet, das sich bald darauf zutrug. Un¬
sere gute Vorsteherinn, die wie ein guter
Hirte auch nicht eins von ihren Schäfchen
verloren, oder wie es hier der Fall war, un¬
geschmückt sehen möchte, konnte, nachdem die
Herren sich entfernt hatten, ihren Unwillen
nicht bergen und sagte zu Ottilien, die ganz
ruhig, indem die andern sich über ihre Preise
freuten, am Fenster stand: aber sagen Sie
mir, ums Himmelswillen! wie kann man so
dumm aussehen, wenn man es nicht ist?
Ottilie versetzte ganz gelassen: verzeihen Sie,
liebe Mutter; ich habe gerade heute wieder
mein Kopfweh und ziemlich stark. Das kann
niemand wissen! versetzte die sonst so theil¬
nehmende Frau und kehrte sich verdrießlich um.

Nun es ist wahr: Niemand kann es wis¬
sen; denn Ottilie verändert das Gesicht nicht,
und ich habe auch nicht gesehen, daß sie ein¬
mal die Hand nach dem Schlafe zu bewegt
hätte.

befuͤrchtet, das ſich bald darauf zutrug. Un¬
ſere gute Vorſteherinn, die wie ein guter
Hirte auch nicht eins von ihren Schaͤfchen
verloren, oder wie es hier der Fall war, un¬
geſchmuͤckt ſehen moͤchte, konnte, nachdem die
Herren ſich entfernt hatten, ihren Unwillen
nicht bergen und ſagte zu Ottilien, die ganz
ruhig, indem die andern ſich uͤber ihre Preiſe
freuten, am Fenſter ſtand: aber ſagen Sie
mir, ums Himmelswillen! wie kann man ſo
dumm ausſehen, wenn man es nicht iſt?
Ottilie verſetzte ganz gelaſſen: verzeihen Sie,
liebe Mutter; ich habe gerade heute wieder
mein Kopfweh und ziemlich ſtark. Das kann
niemand wiſſen! verſetzte die ſonſt ſo theil¬
nehmende Frau und kehrte ſich verdrießlich um.

Nun es iſt wahr: Niemand kann es wiſ¬
ſen; denn Ottilie veraͤndert das Geſicht nicht,
und ich habe auch nicht geſehen, daß ſie ein¬
mal die Hand nach dem Schlafe zu bewegt
haͤtte.

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[98/0103] befuͤrchtet, das ſich bald darauf zutrug. Un¬ ſere gute Vorſteherinn, die wie ein guter Hirte auch nicht eins von ihren Schaͤfchen verloren, oder wie es hier der Fall war, un¬ geſchmuͤckt ſehen moͤchte, konnte, nachdem die Herren ſich entfernt hatten, ihren Unwillen nicht bergen und ſagte zu Ottilien, die ganz ruhig, indem die andern ſich uͤber ihre Preiſe freuten, am Fenſter ſtand: aber ſagen Sie mir, ums Himmelswillen! wie kann man ſo dumm ausſehen, wenn man es nicht iſt? Ottilie verſetzte ganz gelaſſen: verzeihen Sie, liebe Mutter; ich habe gerade heute wieder mein Kopfweh und ziemlich ſtark. Das kann niemand wiſſen! verſetzte die ſonſt ſo theil¬ nehmende Frau und kehrte ſich verdrießlich um. Nun es iſt wahr: Niemand kann es wiſ¬ ſen; denn Ottilie veraͤndert das Geſicht nicht, und ich habe auch nicht geſehen, daß ſie ein¬ mal die Hand nach dem Schlafe zu bewegt haͤtte.

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 1. Tübingen, 1809, S. 98. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw01_1809/103>, abgerufen am 21.11.2024.