etwas von mir anzunehmen: denn wir sind unsre Lebzeit über einander wechselseitig so viel schuldig geworden, daß wir nicht berechnen können, wie unser Credit und Debet sich ge¬ gen einander verhalte -- daß er geschäftlos ist, das ist eigentlich seine Qual. Das Vielfache, was er an sich ausgebildet hat, zu Andrer Nutzen täglich und stündlich zu gebrauchen, ist ganz allein sein Vergnügen, ja seine Lei¬ denschaft. Und nun die Hände in den Schoos zu legen, oder noch weiter zu studiren, sich wei¬ tere Geschicklichkeit zu verschaffen, da er das nicht brauchen kann, was er in vollem Maa¬ ße besitzt -- genug, liebes Kind, es ist eine peinliche Lage, deren Qual er doppelt und dreyfach in seiner Einsamkeit empfindet.
Ich dachte doch, sagte Charlotte, ihm wären von verschiedenen Orten Anerbietun¬ gen geschehen. Ich hatte selbst, um seinet¬ willen, an manche thätige Freunde und Freun¬ dinnen geschrieben, und soviel ich weiß, blieb dieß auch nicht ohne Wirkung.
etwas von mir anzunehmen: denn wir ſind unſre Lebzeit uͤber einander wechſelſeitig ſo viel ſchuldig geworden, daß wir nicht berechnen koͤnnen, wie unſer Credit und Debet ſich ge¬ gen einander verhalte — daß er geſchaͤftlos iſt, das iſt eigentlich ſeine Qual. Das Vielfache, was er an ſich ausgebildet hat, zu Andrer Nutzen taͤglich und ſtuͤndlich zu gebrauchen, iſt ganz allein ſein Vergnuͤgen, ja ſeine Lei¬ denſchaft. Und nun die Haͤnde in den Schoos zu legen, oder noch weiter zu ſtudiren, ſich wei¬ tere Geſchicklichkeit zu verſchaffen, da er das nicht brauchen kann, was er in vollem Maa¬ ße beſitzt — genug, liebes Kind, es iſt eine peinliche Lage, deren Qual er doppelt und dreyfach in ſeiner Einſamkeit empfindet.
Ich dachte doch, ſagte Charlotte, ihm waͤren von verſchiedenen Orten Anerbietun¬ gen geſchehen. Ich hatte ſelbſt, um ſeinet¬ willen, an manche thaͤtige Freunde und Freun¬ dinnen geſchrieben, und ſoviel ich weiß, blieb dieß auch nicht ohne Wirkung.
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[9/0014]
etwas von mir anzunehmen: denn wir ſind
unſre Lebzeit uͤber einander wechſelſeitig ſo viel
ſchuldig geworden, daß wir nicht berechnen
koͤnnen, wie unſer Credit und Debet ſich ge¬
gen einander verhalte — daß er geſchaͤftlos iſt,
das iſt eigentlich ſeine Qual. Das Vielfache,
was er an ſich ausgebildet hat, zu Andrer
Nutzen taͤglich und ſtuͤndlich zu gebrauchen,
iſt ganz allein ſein Vergnuͤgen, ja ſeine Lei¬
denſchaft. Und nun die Haͤnde in den Schoos
zu legen, oder noch weiter zu ſtudiren, ſich wei¬
tere Geſchicklichkeit zu verſchaffen, da er das
nicht brauchen kann, was er in vollem Maa¬
ße beſitzt — genug, liebes Kind, es iſt eine
peinliche Lage, deren Qual er doppelt und
dreyfach in ſeiner Einſamkeit empfindet.
Ich dachte doch, ſagte Charlotte, ihm
waͤren von verſchiedenen Orten Anerbietun¬
gen geſchehen. Ich hatte ſelbſt, um ſeinet¬
willen, an manche thaͤtige Freunde und Freun¬
dinnen geſchrieben, und ſoviel ich weiß, blieb
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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 1. Tübingen, 1809, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw01_1809/14>, abgerufen am 21.11.2024.
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