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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 1. Tübingen, 1809.

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sehe ich sie immer gleichen Schrittes gehen,
langsam, langsam vorwärts, nie zurück. Wenn
es bey einem Kinde nöthig ist, vom Anfange
anzufangen, so ist es gewiß bey ihr. Was
nicht aus dem Vorhergehenden folgt, begreift
sie nicht. Sie steht unfähig, ja stöckisch vor
einer leicht faßlichen Sache, die für sie mit
nichts zusammenhängt. Kann man aber die
Mittelglieder finden und ihr deutlich machen,
so ist ihr das schwerste begreiflich.

Bey diesem langsamen Vorschreiten bleibt
sie gegen ihre Mitschülerinnen zurück, die mit
ganz andern Fähigkeiten immer vorwärts ei¬
len, alles, auch das Unzusammenhängende,
leicht fassen, leicht behalten und bequem wie¬
der anwenden. So lernt sie, so vermag sie
bey einem beschleunigten Lehrvortrage gar
nichts; wie es der Fall in einigen Stunden
ist, welche von trefflichen, aber raschen und
ungeduldigen Lehrern gegeben werden. Man
hat über ihre Handschrift geklagt, über ihre

ſehe ich ſie immer gleichen Schrittes gehen,
langſam, langſam vorwaͤrts, nie zuruͤck. Wenn
es bey einem Kinde noͤthig iſt, vom Anfange
anzufangen, ſo iſt es gewiß bey ihr. Was
nicht aus dem Vorhergehenden folgt, begreift
ſie nicht. Sie ſteht unfaͤhig, ja ſtoͤckiſch vor
einer leicht faßlichen Sache, die fuͤr ſie mit
nichts zuſammenhaͤngt. Kann man aber die
Mittelglieder finden und ihr deutlich machen,
ſo iſt ihr das ſchwerſte begreiflich.

Bey dieſem langſamen Vorſchreiten bleibt
ſie gegen ihre Mitſchuͤlerinnen zuruͤck, die mit
ganz andern Faͤhigkeiten immer vorwaͤrts ei¬
len, alles, auch das Unzuſammenhaͤngende,
leicht faſſen, leicht behalten und bequem wie¬
der anwenden. So lernt ſie, ſo vermag ſie
bey einem beſchleunigten Lehrvortrage gar
nichts; wie es der Fall in einigen Stunden
iſt, welche von trefflichen, aber raſchen und
ungeduldigen Lehrern gegeben werden. Man
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[61/0066] ſehe ich ſie immer gleichen Schrittes gehen, langſam, langſam vorwaͤrts, nie zuruͤck. Wenn es bey einem Kinde noͤthig iſt, vom Anfange anzufangen, ſo iſt es gewiß bey ihr. Was nicht aus dem Vorhergehenden folgt, begreift ſie nicht. Sie ſteht unfaͤhig, ja ſtoͤckiſch vor einer leicht faßlichen Sache, die fuͤr ſie mit nichts zuſammenhaͤngt. Kann man aber die Mittelglieder finden und ihr deutlich machen, ſo iſt ihr das ſchwerſte begreiflich. Bey dieſem langſamen Vorſchreiten bleibt ſie gegen ihre Mitſchuͤlerinnen zuruͤck, die mit ganz andern Faͤhigkeiten immer vorwaͤrts ei¬ len, alles, auch das Unzuſammenhaͤngende, leicht faſſen, leicht behalten und bequem wie¬ der anwenden. So lernt ſie, ſo vermag ſie bey einem beſchleunigten Lehrvortrage gar nichts; wie es der Fall in einigen Stunden iſt, welche von trefflichen, aber raſchen und ungeduldigen Lehrern gegeben werden. Man hat uͤber ihre Handſchrift geklagt, uͤber ihre

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 1. Tübingen, 1809, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw01_1809/66>, abgerufen am 23.11.2024.