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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 1. Tübingen, 1809.

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Unfähigkeit die Regeln der Grammatik zu
fassen. Ich habe diese Beschwerde näher
untersucht: es ist wahr, sie schreibt langsam
und steif wenn man so will, doch nicht zag¬
haft und ungestalt. Was ich ihr von der
französischen Sprache, die zwar mein Fach
nicht ist, schrittweise mittheilte, begriff sie
leicht. Freilich ist es wunderbar, sie weiß
vieles und recht gut, nur wenn man sie fragt,
scheint sie nichts zu wissen.

Soll ich mit einer allgemeinen Bemerkung
schließen, so möchte ich sagen: sie lernt nicht
als eine die erzogen werden soll, sondern als
eine die erziehen will; nicht als Schülerinn,
sondern als künftige Lehrerinn. Vielleicht
kommt es Ew. Gnaden sonderbar vor, daß
ich selbst als Erzieher und Lehrer jemanden
nicht mehr zu loben glaube, als wenn ich
ihn für meines gleichen erkläre. Ew. Gna¬
den bessre Einsicht, tiefere Menschen- und
Weltkenntniß wird aus meinen beschränkten

Unfaͤhigkeit die Regeln der Grammatik zu
faſſen. Ich habe dieſe Beſchwerde naͤher
unterſucht: es iſt wahr, ſie ſchreibt langſam
und ſteif wenn man ſo will, doch nicht zag¬
haft und ungeſtalt. Was ich ihr von der
franzoͤſiſchen Sprache, die zwar mein Fach
nicht iſt, ſchrittweiſe mittheilte, begriff ſie
leicht. Freilich iſt es wunderbar, ſie weiß
vieles und recht gut, nur wenn man ſie fragt,
ſcheint ſie nichts zu wiſſen.

Soll ich mit einer allgemeinen Bemerkung
ſchließen, ſo moͤchte ich ſagen: ſie lernt nicht
als eine die erzogen werden ſoll, ſondern als
eine die erziehen will; nicht als Schuͤlerinn,
ſondern als kuͤnftige Lehrerinn. Vielleicht
kommt es Ew. Gnaden ſonderbar vor, daß
ich ſelbſt als Erzieher und Lehrer jemanden
nicht mehr zu loben glaube, als wenn ich
ihn fuͤr meines gleichen erklaͤre. Ew. Gna¬
den beſſre Einſicht, tiefere Menſchen- und
Weltkenntniß wird aus meinen beſchraͤnkten

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[62/0067] Unfaͤhigkeit die Regeln der Grammatik zu faſſen. Ich habe dieſe Beſchwerde naͤher unterſucht: es iſt wahr, ſie ſchreibt langſam und ſteif wenn man ſo will, doch nicht zag¬ haft und ungeſtalt. Was ich ihr von der franzoͤſiſchen Sprache, die zwar mein Fach nicht iſt, ſchrittweiſe mittheilte, begriff ſie leicht. Freilich iſt es wunderbar, ſie weiß vieles und recht gut, nur wenn man ſie fragt, ſcheint ſie nichts zu wiſſen. Soll ich mit einer allgemeinen Bemerkung ſchließen, ſo moͤchte ich ſagen: ſie lernt nicht als eine die erzogen werden ſoll, ſondern als eine die erziehen will; nicht als Schuͤlerinn, ſondern als kuͤnftige Lehrerinn. Vielleicht kommt es Ew. Gnaden ſonderbar vor, daß ich ſelbſt als Erzieher und Lehrer jemanden nicht mehr zu loben glaube, als wenn ich ihn fuͤr meines gleichen erklaͤre. Ew. Gna¬ den beſſre Einſicht, tiefere Menſchen- und Weltkenntniß wird aus meinen beſchraͤnkten

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 1. Tübingen, 1809, S. 62. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw01_1809/67>, abgerufen am 23.11.2024.